Noch eine Chance

01.12.2023Text: DOMINIK BLOH

Adventskalender

DOMINIK BLOH

DOMINIK BLOH lebte über zehn Jahre – schon als Teenager – auf der Strasse. Er hat seine Geschichte aufgeschrieben, auf kleinen Zetteln, noch als Obdachloser. Daraus entstand das Buch «Unter Palmen aus Stahl», das zum Spiegel-Bestseller und in Deutschland zur Schullektüre wurde.

Gestern war ein verregneter Sonntag. So richtig gemütlich, einladend zum Liegenbleiben. Wie schön, dass ich heute die Möglichkeit dazu habe. Am Nachmittag bin ich dann aber doch noch rausgegangen, denn es stand ein Gespräch mit dem Deutschlandfunk an. Vor dem Interview wollte ich noch bei meiner Lieblingspizzeria etwas essen, keine 100 Meter von den «Palmen aus Stahl» entfernt, nach denen mein Buch heisst. An diesem Ort habe ich meine letzten drei Winter auf der Strasse verbracht. Ich kehre immer noch hierher zurück. Die Pizzeria gab es damals noch nicht, sie ist erst vor kurzem eröffnet worden.

Während die Pizza im Ofen liegt, gehe ich raus, eine rauchen. Aber mein Feuerzeug geht nicht. Ich schaue mich nach anderen Menschen um, von denen ich womöglich Feuer kriegen könnte. Da entdecke ich eine Frau und gucke sie an. «Brauchst du Feuer?», fragt sie. «Dann komm her.» Sie sitzt im Rollstuhl. Ich komme näher. Ein Fuss fehlt. Der andere guckt nackt aus dem schwarzen Hosenbein heraus.

Sie beginnt zu weinen und zu schluchzen. Ihr scheint es grade gar nicht gut zu gehen. «Was ist denn los?», frage ich, als ich das Feuer nehme. «Kann ich dir auch irgendwie helfen?» Sie sieht aus wie ein begossener Pudel, ein trauriger.

Es ist seltsam, wie lange es manchmal dauert, bis man etwas völlig Offensichtliches klar erkennt: Sie ist total durchnässt, genauso wie der Schlafsack, der aus der Tasche guckt, die an ihrem Sitz hängt.

Sie erzählt mir, wie sie eingeschlafen ist, auf derselben Pritsche, auf der ich auch schon gelegen habe. Keiner hat sie geweckt. Sie ist buchstäblich im Regen liegengelassen worden. Wahrscheinlich nicht nur heute.

Ich habe mich hingehockt, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Und entdecke hinter dem Rollstuhl ein kleines Wollknäuel, ein zweiter begossener Pudel. Nasses welliges Fell. Kleine Knopfaugen. «Das ist Minka.» Ihre Stimme wird ganz weich. Während sie über Minka spricht, ziehen sich ihre Mundwinkel nach oben zu einem kleinen Lächeln.

Minka springt um mich herum und lässt sich gerne bekuscheln. Minkas Freude macht auch die Frau im Rollstuhl glücklich. Minka sage ich, mein Name ist Dominik. Daraufhin stellt sich auch Angelina vor. Seit 18 Jahren macht sie Platte, wie man in Deutschland sagt, wenn Menschen auf der Strasse schlafen. Vier Jahre davon ist sie mit Minka unterwegs. Man gewöhnt sich analles, sagt sie, als ich sie auf ihren nackten Fuss anspreche.

Ich weiss, was sie meint.

Keine drei Meter neben uns läuft die Polizei Streife. Die Beamten würdigen Angelina keines Blickes. Dabei bräuchte es nur eine Frage, mehr wünsche ich mir gar nicht. Ein kurzes «Hallo, kann man Ihnen helfen?» Aber die Menschen gucken weg, sie wollen die Not nicht sehen.

Drinnen wartet meine fertige Pizza, ausserdem eine Redakteurin und ein Aufnahmegerät auf mich. Aber ich will Angelina nicht nochmal im Regen stehen lassen. Ausserdem würde sie gerne einen Kaffee trinken. Mit Milch und Zucker, wenn es geht.

Es gibt hier auch gute Pizza, versuche ich ihr schmackhaft zu machen, und zähle alle Sorten auf, die mir einfallen. Sie soll Auswahl haben. Und Vorfreude isst mit. Sie wählt Tomate-Mozzarella. Ausgezeichnet.

Wir rollen in den Laden. Der Betreiber freut sich, er bittet sie herzlich herein. Der Laden ist voller Menschen. Wir sitzen mit der Redakteurin in einer Ecke im hinteren Teil, wo es ruhiger ist.

Wir essen zusammen und quatschen. Sie erzählt aus ihrem Jetzt. Ich berichte aus meiner Vergangenheit. Mich berührt das. Sie erzählt von ihren Problemen im Rollstuhl. Wie schwer es ist, ihre Sachen zu transportieren. Dass die Leute bei ihr sofort ablehnend sind, weil sie alles Schlimme, was sie verdrängen, in einer Person sehen können: So wie Angelina will keiner sein. Aber sie will weitermachen, bis es vorbei ist. Als nächstes geht sie in den Waschsalon, ihre Sachen und den Schlafsack trocknen. Ich gebe ihr noch ein bisschen Geld mit. Und wir rauchen noch eine zusammen. Bevor ich wieder reingehe und sie sich auf den Weg macht, sagt sie noch: «Das Lachen darf man nie verlieren, sonst hat man nichts mehr.» Ich hoffe, wir begegnen uns jetzt öfter. Angelina ist eine tolle Frau. Hoffentlich kriegt sie noch eine Chance.

Ich nehme mir vor, meine Umgebung stets achtsam wahrzunehmen, die Augen offen zu halten. Mein Leben ist heute viel besser. Deshalb sehe ich mich in der Verantwortung, wenn ich Menschen in Not sehe oder Menschen, die nicht selbständig ihre Würde aufrechterhalten können, mein Bestes zu tun, um die Situation für sie zu verbessern. Und ich wünsche mir, dass viele Menschen es genauso machen. Eine Chance zu bekommen ist so wichtig.

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