Allah oder Gott? In Albanien nicht so wichtig
FRANZISKA TSCHINDERLE
FRANZISKA TSCHINDERLE ist Journalistin mit Schwerpunkt Balkan. Sie lebt in Tirana und hat 2022 ein Buch über Albanien veröffentlicht.
Seit ich im Februar 2022 nach Albanien gezogen bin, wird mir immer wieder dieselbe Frage gestellt, meist begleitet von einem zutiefst besorgten Blick: Wie geht es dir als Frau in einem muslimischen Land?
Wenn mir diese Frage gestellt wird, dann erzähle ich von einer Reise in den katholisch geprägten gebirgigen Norden Albaniens. Dort begegnen einem die meisten Kopftücher, sage ich.
Alte Frauen binden sie sich zum Schutz gegen Wind und Wetter um. In der Regel schaut mein jeweiliges Gegenüber dann verdattert. In Albanien leben auch Katholik*innen? Und Muslimas tragen keine Kopftücher? Ja, also in Wien, wo ich studiert habe, sieht man mehr Frauen mit Kopftuch als in Tirana. Wenn ich dann noch hinzufüge, dass Albaniens Hauptstadt im Dezember einem OutdoorChristkindlmarkt gleicht und alle Punsch mit Alkohol trinken, tritt die ultimative Verwirrung ein.
Ja, woran glauben die Albaner*innen denn?
Für das Online-Magazin Die Republik habe ich einmal Albaniens Ministerpräsidenten Edi Rama interviewt und ihm dieselbe Frage gestellt. «Europa ist unsere Religion», gab er damals als Antwort. Seit Juli 2022 führt Albanien Beitrittsgespräche mit der Europäischen Union. Zur EU zu gehören, ist der tiefe Wunsch sämtlicher Generationen – von jungen Studentinnen bis zu alten Männern auf dem Land. Ganz nebensächlich erwähnte Rama, dass er selbst Katholik, seine Frau Muslima und die Kinder aus der vorherigen Ehe orthodox seien. «Unser gemeinsames Kind wird irgendwann einmal entscheiden, was er sein möchte», so Rama zu mir, «vielleicht wird er buddhistisch oder jüdisch.»
Der Balkan gilt vielen stereotyp als Hort religiöser und ethnischer Konflikte. Das hat mit den Kriegen in den Neunzigerjahren zu tun. Albanien, ein Land, das übrigens nie Teil von Jugoslawien war, blieb dieser Hass erspart. In dem 2,8-Millionen-Einwohnerland leben vier Konfessionen nebenund miteinander. Rund sechzig Prozent der Bevölkerung sind muslimisch, zehn Prozent katholisch sowie sieben Prozent albanisch-orthodox. Dazu kommen noch rund zwei Prozent Bektashi, das ist ein Sufi-Orden, der wie alle muslimischen Ordensgemeinschaften bei der türkischen Republikgründung durch Mustafa Kemal Atatürk verboten wurde und sich daraufhin nach Albanien zurückzog. Dort war er schon zu osmanischer Zeit gut etabliert gewesen. Albaniens Monarchie Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts stand für religiöse Toleranz. Im Zweiten Weltkrieg nahm Albanien auch – obwohl faschistisch besetzt – Jüd*innen auf, die vor den Nazis flohen.
Bis heute spürt man diese Offenheit. Mischehen sind üblich, das gemeinsame Feiern religiöser Feste auch. Meine Nachbarn sind christlich-orthodox, wissen aber genau Bescheid, wann Bajram ist – so nennt man hier die religiösen Feste der Muslime. Man bringt sich gegenseitig bemalte Eier und Süssspeisen vorbei. Ich höre in Tirana vieles (Autolärm, Presslufthammer, Feuerwerk, laute Popmusik in den Cafés, Kirchenglocken), aber nur selten oder sehr, sehr leise einen Muezzin. Selbstverständlich gibt es Moscheen, aber ich habe in Albanien noch nie jemanden kennengelernt, der oder die fünf Mal am Tag betet. Viele geben ganz offen zu, dass sie gar nicht wissen, wie das geht.
Albanien ist ein unaufgeregt säkulares Land. Wer die Gründe dafür sucht, muss zurückblicken.
Der Islam kam im 15. Jahrhundert mit den Osmanen hierher. Davor glaubten in dem Land die meisten ans Christentum – sie lebten orthodox und katholisch. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts wie an anderen Orten Europas auch auf dem Balkan die Nationalbewegungen erstarkten, nahm der Zugriff des Osmanischen Reichs auf die Region immer weiter ab. Eine der Voraussetzungen für einen unabhängigen albanischen Staat war das Wohlwollen der Grossmächte Italien, Österreich-Ungarn, Frankreich und Russland, eine andere die religiöse Harmonie innerhalb des Landes. Zu gross war die Sorge, dass Katholik*innen gegen Orthodoxe und schriftgläubige Muslime gegen andersgläubige Minderheiten kämpften. Aus dieser Zeit stammt der Satz: «Die Religion der Albaner ist das Albanertum.» Damit ist gemeint: Nicht eine Religion, sondern eine gemeinsame Sprache war das Fundament des neuen Staates. Und dieser Staat war wichtiger als die Frage, wie zu Gott gebetet wurde.
Ein weiterer Grund für die religiöse Indifferenz vieler Albaner*innen liegt in der Zeit des Sozialismus stalinistischer Prägung (1944 – 1992). Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Diktator Enver Hoxha an die Macht und errichtete eine brutale Einparteienherrschaft. 1967 erklärte er Albanien zum ersten atheistischen Staat der Welt und liess ganz im Sinne von Karl Marx verkünden: Religion ist Opium fürs Volk! Hoxha liess Kirchen und Moscheen zerstören und Geistliche exekutieren oder einsperren. Wer eine Bibel oder einen Koran zuhause hatte, kam ins Gefängnis. Die Religion der Albaner*innen war fortan: der Marxismus-Leninismus.
Hoxhas Atheismus-Kampagne war brutal und menschenfeindlich. Niemand wünscht sich diese Zeit zurück. Doch obwohl man danach eine Gegenreaktion hätte erwarten können, setzte nach der Wende keine Radikalisierung ein. Ja, einige arabische Staaten und auch die Türkei haben Moscheen gebaut und religiöse Vereinigungen gegründet. Und ja, es gibt heute ganz sicher mehr strenggläubige Menschen als vorher. Aber wen wundert das? Nach der Wende war all das, was unter Enver Hoxha verboten war, interessant und neu: der Kapitalismus und Coca-Cola ebenso wie der Gang in die Kirche oder Moschee. Auch Sinn musste neu gesucht werden, denn was vorher Dogma war, galt nun nicht mehr.
Albanien hat heute, anders als im Rest Europas oft ängstlich angenommen, kein Islamismus-Problem. Ganz im Gegenteil. Als im August 2021 in Afghanistan die Taliban die Macht übernahmen, wurden tausende Menschen von dort evakuiert und in Hotels an Albaniens Küste untergebracht. Ich habe viele dieser Geflüchteten getroffen und interviewt. Unter ihnen waren Basketball-Spielerinnen, Staatsanwältinnen und Lehrerinnen, die vor einem Regime flohen, das Frauen degradiert und zuhause einsperren lässt. Sie flohen vor dem religiösen Wahn der Islamisten und fanden in Albanien einen sicheren Hafen. Es gab damals in Albanien keine Partei, die Stimmung gegen die Menschen machte, und auch keine rassistisch aufgeladenen Demonstrationen. Der Bürgermeister eines aufnehmenden Ortes erklärte mir, die Geflüchteten könnten so lange bleiben, wie sie möchten.
Das Schönste aber ist, dass es innerhalb der Konfessionen in Albanien keine Konkurrenz zu geben scheint. Weder strebt die Mehrheit der Muslime eine klare Führungsposition an, noch klagen die Katholik*innen darüber, diskriminiert zu sein. Alle sind gleich viel wert, was sich auch im Wohnzimmer meiner Nachbarn, die albanisch-orthodox sind, zeigt. Vergangene Woche luden sie mich auf ein Glas Limoncello ein und ratterten auswendig die religiösen Feiertage herunter. Jede Konfession hat ihre eigenen – aber alle haben frei.