Jenseits der Materie

11.12.2023Text: DIANA FREI

DIANA FREI

DIANA FREI ist Co-Redaktionsleiterin des Strassenmagazin Surprise und hat bei dieser Produktion mitgearbeitet.

Es gibt Gegenstände,
die sind nicht bloss sie selbst.

An ihnen hängt ein Herz.
Das Herz des Menschen,
dem sie gehören, oder des
Menschen, der sie erschuf.

Diese Zeilen hat Nicolas Gabriel geschrieben, der bei der Rudolf-Brun-Brücke in Zürich Surprise verkauft. Es ist die kleine Geschichte zu einem Pflanzenbuch, das im Dezember Teil einer Geschenke-Installation im Zürcher Sogar Theater sein wird: Dort werden unterschiedliche Gegenstände ausgestellt, zusammen mit den verschrift- lichten Erinnerungen oder Geschichten, die damit ver- knüpft sind. Selbstgestrickte Socken etwa, die an die 26 Enkelkinder der eigenen Grossmutter erinnern, weil diese das ganze Jahr über Socken stricken musste, um an Weihnachten jedem ein Paar schenken zu können. Oder das Bündner Birnbrot, dessen Geheimrezept der Vater – ein Bäckermeister – letzten Endes in einer Bä- ckerei in Biel preisgab, weil er selber eine Mehlallergie entwickelte und das Geheimnis daher nicht mehr wah- ren musste. Eine Elmex-Zahnspülung wiederum erinnert daran, dass Zahnsanierungen Geld kosten, das nicht alle zur Verfügung haben, und erzählt gleichzeitig von einer zarten Freundschaft mit einem obdachlosen Kollegen. Was in den Tagen der installativen Theaterproduktion «beyond the material» laufend im Theatercafé entsteht, wird am Abend auf der Bühne zur szenischen Lesung: Die Geschichten werden miteinander verwoben, weiter- gesponnen und musikalisch eingebettet. Persönliche Erinnerungen fächern die unterschiedlichsten Lebens- welten auf und lassen hie und da ein Stück Zeitgeschichte anklingen.

Es ist ein Donnerstagmorgen in der Bar des Theaters, die Schauspielerin Rahel Hubacher empfängt die Sur- prise-Verkäufer*innen und Stadtführer Seynab Ali Isse, Heini Hassler, Michael Hofer, Hans Peter Meier und Georges Meier nacheinander. Es soll um ihre Lebens- themen gehen und um die Frage, an welche materiellen Gegenstände sie geknüpft sind.

An eine Coca-Cola-Flasche zum Beispiel. Aber die kleine aus dickem Glas, 2 Deziliter. Die schön geschwungenen Linien der Form, der weisse Schriftzug: Diese Flasche steht für ein Lebensgefühl, sagt Georges Meier. Als Kind verband er damit den Luxus, im Restaurant ein Coca- Cola trinken zu dürfen, was selten vorkam und wenn, dann nicht, ohne zuhause vorher viel Wasser getrunken zu haben («Nicht, dass ihr zu stark Durst habt, es gibt dann nur eins»). Coca-Cola stehe für Freiheit und für ein Amerika, wie er sich das als Kind vorgestellt habe, sagt Meier. «Ein Lebensgefühl, das es eigentlich gar nicht gibt.

Ein Konstrukt», sagt er und kommt trotzdem in Fahrt, erzählt von den Highways und dem unendlichen Horizont, die er aus dem Fernsehen kannte und welche die sprich- wörtlichen unbegrenzten Möglichkeiten ver- sprachen, die dem Bub, wohnhaft zwischen den Bündner Bergen, so verlockend schie- nen. Meier war ein wissbegieriges Kind. «Ich bin ein Produkt von dem, was ich lese. Ich lese alles», sagt er. Alles über Geschichte, Philosophie, Sozialwissen- schaften, Naturwissenschaften. Warum er nicht Wissen- schaftler geworden sei, fragt Hubacher. Er habe ein Pro- blem in der Leistungsgesellschaft, sagt Meier. Er war Legastheniker, Stotterer, die Mutter sagte jeweils: «Alles, was du weisst, nützt dir nichts.» Sie hatte recht, den Leh- rer interessierte es nicht. Meier machte eine kaufmän- nische Lehre und arbeitete bei der Bank, bis er bei einer Umstrukturierung seine Stelle verlor. In dieser Coca- Cola-Flasche, der kleinen à 2 dl, steckt seine Geschichte.

Seynab Ali Isse hat Musik mitgebracht, Hubacher hatte sie darum gebeten. Der Song hört sich süsslich melo- disch an, und nun schaut sich die Schauspielerin die zugehörigen Gesten bei Ali Isse ab. Die Interpretin im Video richtet an die Adresse der Männer klare Worte mit viel Witz: «Ich schiesse die Goals, während du schläfst.» Als Geschenk, das ausgestellt wird, passt dazu das «Ha- reem Al Sultan Parfümöl», das im Internet als «luxuriö- ser und raffinierter Duft» beworben wird, «mit dem sich jeder selbstbewusst und glamourös fühlen kann». Sey- nab Ali Isse träufelt es am Freitagabend jeweils in den Staubsauger, wenn sie ihre Wohnung putzt. Und wenn eine ganze Gruppe von Bekannten und Verwandten zu ihr zu Besuch kommt, hat sie danach Kopfschmerzen, weil alle dasselbe Hareem Al Sultan aufgetragen haben. Ein Geschenkgegenstand jedenfalls, der ein Gefühl von Zuhause vermittelt.

Hans Peter Meier sitzt am Tisch mit den tiefen Furchen in der Holzstruktur und überlegt. «Geschenke, Materiel- les, damit kann ich eigentlich wenig anfangen», sagt er dann. «Das Glück findest du in dir selber, und wenn du es da nicht findest, dann findest du es nirgends auf der Welt.» Meier will Frieden und ein respektvolles Mitein- ander schenken. Er wird im Café zum Gespräch empfan- gen, durch die Geschichten führen, die sich hier im Ver- lauf der Installation ansammeln und Begegnungen schaffen. Denn was steht hinter dem Materiellen? Die Beziehung, der Austausch, das Gespräch.

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