Wie die Schweiz zu ihren Working Poor kam
DR. CARLO KNÖPFEL
DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadt- entwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit
Wir befinden uns in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Die Schweizer Wirtschaft ist im Umbruch. Die Arbeitslosenzahlen erreichen Höchstwerte. Die Prekarisierung der unteren Mittelschicht schreitet voran. Nach dem Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR sucht das Land nach Orientierung.
In diesen Krisenjahren erarbeitet die neu gegründete Stabsstelle Grundlagen von Caritas Schweiz ein Positionspapier über Working Poor in der Schweiz. Das Dokument bekommt den vielsagenden Titel: «Trotz Einkommen kein Auskommen». An einer Medienkonferenz wird die Studie am 11. November 1998 vorgestellt. Die Resonanz ist überwältigend. Kaum eine Tageszeitung, kaum ein Radiosender berichtet nicht über die neu entdeckten «Working Poor» in diesem Land. Es folgen Anfragen über Anfragen für Referate und Podiumsdiskussionen.
Die starke Beachtung des Positionspapiers von Caritas Schweiz hat zwei Gründe. Am Wochenende vor der Publikation fand der jährliche Kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB statt. Die Gewerkschaften sahen sich in der Defensive. Die hohen Zahlen an Stellenverlusten nagten am Vertrauen der Erwerbstätigen. In dieser Situation rang sich der SGB zu einer Vorwärtsstrategie durch. Gegen interne Bedenken verabschiedete der Kongress eine zentrale Forderung: «Kein Lohn unter 3000 Franken». Von der erfolgreichen Kampagne werden vor allem die Frauen profitieren.
Die Studie von Caritas Schweiz liefert die wissenschaftliche Begründung, die zahlenmässigen Schätzungen und die narrativen Argumente zu dieser gewerkschaftlichen Kampfansage. Natürlich werden sofort Stimmen laut, die darin ein abgekartetes Spiel zwischen Caritas und SGB vermuten. Dabei wissen beide Seiten nichts vom Ansinnen der anderen. Die historische Koinzidenz dieser beiden Ereignisse ist aber so zufällig nicht. Das Thema liegt in der Luft.
Trotzdem kann dieses Zusammentreffen allein die grosse Resonanz nicht erklären. Dazu kommt ein zweiter Faktor. Working Poor gibt es schon lange in der Schweiz. Verschiedene kantonale und nationale Armutsstudien hatten längst auf dieses Phänomen hingewiesen, aber niemand griff die Thematik ernsthaft auf. Erst die Publikation von Caritas Schweiz brachte das Thema auf die politische Agenda, weil damit ein weitverbreitetes Verständnis von Armut in aller Deutlichkeit infrage gestellt wurde: Wer arbeitet, kann nicht arm sein. Working Poor kann es mit dieser Deutung von Prekarität gar nicht geben. Die Schätzungen von Caritas Schweiz aber zeichneten ein anderes Bild: Mindestens fünf Prozent der Bevölkerung im Erwerbsalter zählten damals zu den Working Poor. Dies entsprach rund 250 000 Personen, die in Working-Poor-Haushalten lebten. Natürlich wurden diese Schätzungen angezweifelt, was wiederum dazu führte, dass das Bundesamt für Statistik seitdem Zahlen zu Working Poor erheben muss. Sie machen deutlich, dass rund vierzig Prozent aller armutsbetroffenen Menschen in Working-Poor-Haushalten leben. Damit konnte das Thema politisch nicht mehr auf die Seite geschoben werden.
Angesichts der folgenden heftigen Debatte über die Working Poor in der Schweiz forderte sogar der damalige Direktor des Arbeitgeberverbandes existenzsichernde Löhne! Nur liess er wohlweislich offen, für wen dies gelten solle: Nur für jene Person, die erwerbstätig ist, oder für die ganze Familie, die von diesem Einkommen leben muss? An zahlreichen Veranstaltungen wurden diese Fragen verhandelt. Auffällig waren dabei einige argumentative Pirouetten vonseiten der Wirtschaft. Denn bis heute gibt es kein Gesetz, das die Arbeitgeber*innen verpflichtet, existenzsichernde Löhne zu bezahlen. Löhne werden ausgehandelt: individuell oder kollektiv. Hier fand die Forderung des SGB ihren Platz. «Kein Lohn unter 3000 Franken» liess offen, ob dieses Ziel über Verhandlungen im Rahmen der Sozialpartnerschaft oder als nationaler Mindestlohn durchgesetzt werden solle.
Offen blieb mit dieser Forderung auch, ob diese 3000 Franken tatsächlich existenzsichernd sind – und für wen.
Neue Fragen kamen in dieser Debatte auch auf: Zunächst musste geklärt werden, wann ein Haushalt überhaupt zu den Working Poor gezählt wird. Muss in einem Working-Poor-Haushalt mindestens eine Person vollzeiterwerbstätig sein oder können auch zwei Teilzeitstellen kumuliert werden? Wie sieht es bei Alleinerziehenden aus? Reicht hier ein Beschäftigungsgrad von 50 Prozent?
Endlich wurde eine Brücke zur Familienpolitik geschlagen: Wenn Löhne schon nicht existenzsichernd sind, dann müssen WorkingPoor-Familien vom Sozialstaat unterstützt werden. Plötzlich diskutierte man über die Einführung von nationalen Ergänzungsleistungen für armutsbetroffene Familien (FamEL). Das Vorhaben scheiterte allerdings nach jahrelanger Diskussion in der nationalrätlichen Kommission für Gesundheit und soziale Sicherheit am Nein eines CVP-Politikers. Heute haben erst vier Kantone eine FamEL, in mehreren Kantonen steht dieses Anliegen noch auf der sozialpolitischen Agenda.
Schliesslich wurde ein dritter Aspekt der Lebenslage «Working Poor» zum Thema, der bereits im Titel der Caritas-Studie anklang: Es geht nicht nur um die Höhe der Löhne, sondern vor allem um die Höhe des frei verfügbaren Einkommens. Was bleibt übrig, wenn die Krankenversicherungen, die Steuern und die Mieten gezahlt sind? Mit dem Fokus auf die Kaufkraft wird deutlich, dass nicht nur der Arbeitsmarkt und die Lohnpolitik das Ausmass der Working-PoorProblematik bestimmen, sondern auch die Familienpolitik, die Steuerpolitik, die Gesundheitspolitik und die Wohnraumpolitik eine Rolle spielen.
Die Gewerkschaften forcierten in den folgenden Jahren die politische Auseinandersetzung. Obwohl die SGB-Initiative zur Einführung eines schweizweiten Mindestlohns abgelehnt wurde, führten einzelne Kantone trotzdem Minimallöhne ein. In einigen Branchen (Gastronomie, Detailhandel) konnten die tiefsten Erwerbseinkommen erhöht werden. Doch der grosse Erfolg blieb aus. Noch immer ringt die Schweiz mit dem hohen Anteil an Working-Poor-Haushalten in der Armutsbevölkerung, noch immer existiert ein Tieflohnsektor. Nur etwas ist in den letzten Jahren dazugekommen. Die Vertreterinnen der feministischen Ökonomie haben mit Vehemenz darauf hingewiesen, dass «arbeiten» mehr ist als «erwerbstätig sein». Die unbezahlte Care-Arbeit muss in der Diskussion um die Working Poor einbezogen werden. Damit erhält das Dogma: «Wer arbeitet, kann nicht arm sein» nochmal eine ganz andere Bedeutung.