Loslassen

16.12.2023Text: HASN RYHNER, Illustration: KATRIN VON NIEDERHÄUSERN

HANS RHYNER

HANS RHYNER ist Surprise Stadtführer in Zürich und verkauft das Strassenmagazin in Schaffhausen, Zug und Zürich.

Genau heute vor einem Jahr, am 16. Dezember 2022, da sass meine Mutter traurig auf ihrem Bett im Altersheim in Elm. Und ich dachte: Hierher gehört sie nicht. Meine Schwester Romi und ich hatten sie an dem Tag vom Kantonsspital Glarus hergebracht, nun war meine Schwester bereits gegangen. Ich blieb allein bei der Mutter zurück. Da spürte ich, ich muss anfangen loszulassen.

Das ist natürlich ein gegenseitiges Loslassen. Sie merkte wahrscheinlich selber auch, dass es vielleicht nicht mehr lange geht. Sie wusste bestimmt auch, wenn ich danach ins Elternhaus gehen würde, um Holz zu hacken, dass ich es eigentlich bereits nicht mehr für sie mache. Ich als Sohn tue es nicht mehr für die Mutter.

Ich ging in den Monaten darauf trotzdem immer wieder Holz hacken, natürlich immer verbunden mit einem Besuch im Altersheim. Aber es hat mir jedes Mal wehgetan. Zuerst ins Elternhaus und danach erst zur Mutter. An einen anderen Ort.

An diesem 16. Dezember schien mir also, sie passe so gar nicht in dieses Altersheim. Ich ging zum Pflegepersonal und sagte: «Ich nehme die Mutter wieder mit nach Hause.» Ich hatte Schuldgefühle, weil sie immer gesagt hatte, sie wolle nie ins Altersheim. Wir hatten sie gegen ihren Willen dorthin gebracht. Ich hatte das Gefühl, wir hätten sie hintergangen.

Ich musste mir eingestehen, dass ich der Mutter keinen Gefallen getan hätte, wenn ich sie wieder mitgenommen hätte, mir selber nicht und meinen Geschwistern auch nicht. Ich hätte sie wieder alleinlassen müssen. Eine Nacht hätte ich zwar bleiben können, aber am Tag darauf hätte ich wieder zurück nach Zürich fahren müssen. Und was dann? Was, wenn ihr etwas passiert wäre? Ich hätte damit die ganze Verantwortung anderen aufgeladen, ich hätte sie der Schwester, die in der Nähe in Ennenda lebt, zugeschoben. Es hätte Streit unter uns allen gegeben, weil ich eine Fehlhandlung begangen hätte. Und dies nur, weil ich mich selber schuldig fühlte und mich davon befreien wollte.

 Auch die Spitex sagte, die Mutter hätte die Situation zuhause auch nicht mehr verstanden. Sie sagten, in ihrem Fall müsste ich rund um die Uhr da sein, und das würde die Mutter wahrscheinlich auch nicht wollen.

Im Juni dann, als ich wieder einmal als Letzter der Geschwister bei ihr im Altersheim zu Besuch war, sagte sie zu mir: «Hans, schau, dass ihr Frieden habt untereinander.» Sie sagte das wahrscheinlich auch, damit sie selber loslassen durfte. Ich bin mir sicher, dass sie dasselbe auch allen meinen Geschwistern, jedem einzeln, gesagt hat. Und wir lösen es heute noch ein. Das war, was wir wirklich noch für sie tun konnten.

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