Zurückschauend voranschreiten

02.01.2024Text: EDWIN RAMIREZ, Illustration: Katrin von Niederhäusern

EDWIN RAMIREZ

EDWIN RAMIREZ macht Theater und Stand-up-Comedy und engagiert sich für mehr Barrierefreiheit und Diversität in der Schweizer Kulturlandschaft.

Einen besonderen Platz im Herzen hat bei mir der Jahresanfang 2021. Gerade hatte ich meinen Bürojob gekündigt, um mich hauptberuflich dem Theaterschaffen und der Comedy zu widmen. Nachdem ich seit Jahren meiner Leidenschaft nur nebenbei nachgegangen war, würde ich nun endlich den Sprung wagen und den Hauptteil meiner Zeit dem widmen, was mir am meisten Freude macht. Kunsthochschulen sind grösstenteils noch unzugänglich, und Personen mit Behinderung wird Kunst als Karriere nicht nahegelegt: Fast alle behinderten Künstler*innen erlangen ihr Handwerk daher durch learning by doing.

Ich wurde für eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte angefragt, für die mein Wissen, meine gelebte Erfahrung und Perspektive einen wertvollen Beitrag darstellten. Zusätzlich zu Auftritten mit meinem Kollektiv Criptonite war ich als Juror*in, Workshopleiter*in oder Vorstandsmitglied in diversen Kulturprojekten tätig und durfte mich für meine Ideale – mehr Zugänglichkeit, Diversität und Akzeptanz – starkmachen. Ich fühlte mich voller Energie. Ich hatte Elan und Freude, wie ich sie bisher nur ganz selten erleben durfte. Ich konnte kaum erwarten, welche weiteren Herausforderungen das Leben noch für mich bereithalten würde.

Im Vergleich dazu fühlt sich 2023 langsam, schleppend und ermüdend an. Im Verlauf von einem Jahr habe ich meinen Vater und beide Grosseltern mütterlicherseits verloren. Mensch hört ja oft, dass der Verlust der Eltern einem den Boden unter den Füssen wegzieht. Und doch war ich nicht bereit, als es passierte.

Nostalgie hat mich schon immer misstrauisch werden lassen, besonders wie sie dazu eingesetzt wird, uns Produkte zu verkaufen, wie gerade während der Festtage. Seit dem Tod meines Vaters und meiner Grosseltern ertappe ich mich aber immer wieder dabei, mit Sehnsucht in der Vergangenheit zu schwelgen. Sei es über die «Erdsee»-Buchserie von Ursula K. Le Guin aus den 1970ern, durch den Film «Züri brännt» über die Opernhauskrawalle der 1980er oder durch die Teenie-Komödie «10 Dinge, die ich an Dir hasse» von 1999. Dennoch weiss ich, dass die Dinge nicht so rosig waren, wie sie Klein-Edwin erschienen.

Wenn ich genauer hinschaue, finde ich da auch mehr als nur eine Sehnsucht nach vermeintlich besseren Zeiten in mir. Da ist ein starker Drang, mich in die Generationen vor mir hineinzuversetzen: Was waren ihre Wünsche? Wovor hatten sie Angst? Wogegen haben sie gekämpft, womit gehadert? Was wollten sie uns weitergeben? Ich spüre den starken Wunsch, mich mit der Generation vor mir auseinanderzusetzen und die Dinge, die ich wertschätze, weiterzutragen. Ich will mit dem weiterarbeiten, was schon hier ist. Was schon vor mir da war.

Ich schätze mich glücklich: Ich habe eine wundervolle Partnerperson und die besten Freund*innen, die ich mir wünschen kann, die mich gemeinsam mit meiner neuen Therapeutin durch meinen Trauerprozess hindurch unterstützen. Mit viel Geduld und einer neuen Wertschätzung für die Vergangenheit freue ich mich wieder jeden Tag ein bisschen mehr auf meine Zukunft.

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