Laufend alt werden
FLORIAN WÜSTHOLZ
FLORIAN WÜSTHOLZ ist freier Journalist und läuft gerne lange und weit. Er hat am 20. Dezember Geburtstag.
Ein weiteres Mal haben wir die Sonne umrundet. Zeit, die Laufschuhe zu binden, den Rucksack zu schultern, die Wasserflaschen aufzufüllen und mich auf den Weg zu machen: In den nächsten Stunden will ich so viele Kilometer rennen, wie ich heute alt werde. Ein Ritual, dem ich mich seit einigen Jahren widme.
Die Schlüsselfrage ist natürlich: Warum? Klar, da ist die Freude am Laufen, je weiter, desto spannender – auch wenn ich kein besonders guter und schneller Läufer bin. Mehr interessiert mich aber, mein Leben in diesen Stunden zu reflektieren und eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen. Mit jedem Kilometer will ich gedanklich in das entsprechende Lebensjahr eintauchen und führe mir bewusst Erlebnisse, Gefühle, Schicksalsschläge und Freuden vor Augen.
Bei Kilometer fünf schiebe ich in Gedanken meine kleine Schwester durch unsere Wohnung in Princeton in den USA, während mich meine Füsse durch den Jura tragen. Sie sitzt in einer Kartonschachtel, die sich wunderbar über den Teppich stossen lässt. Eine Runde nach der anderen. Sie lacht, ich lache. Die Szene wechselt. Ein Streit der Eltern, Gewalt, Teller, die zu Boden geworfen werden und zerspringen, Tränen.
Als der Halbmarathon schon geschafft ist, durchlebe ich nochmal meine Studienzeit in England, klettere an den Sandsteinfelsen von Stanage Edge, telefoniere nächtelang mit meiner damaligen Freundin. Dann kommen Erinnerungen an die kurz darauf folgende Trennung im Gedankenstrom auf – ein Gedanke führt zum nächsten. Funktioniert so Verarbeitung?
Für Haruki Murakami ist Laufen eine Metapher. Aber wofür? Schliesslich lassen sich beliebig viele Metaphern entdecken: Zum Beispiel die Gewissheit, dass es weitergeht. Ich muss nur den nächsten Schritt machen. Oder: Das Leben zieht mal schneller und mal langsamer an mir vorbei. Der Klassiker: Dass es mal hoch und mal runter geht.
Schliesslich: Manchmal fühlt sich alles federleicht an. Ich bin völlig im Flow. Und dann plötzlich ist alles anstrengend und sinnlos. Jedes Jahr staune ich auch darüber, was alles im Hintergrund bleibt: Die etlichen Male, die ich zur Bestrafung in den stockfinsteren Weinkeller gesperrt wurde, der zeitlebens verspürte Leistungsdruck oder die Angst, von meinen Mitmenschen nicht gesehen zu werden.
Je länger ich laufe, desto intensiver wird das Erleben. Im Kopf, in den Beinen. Die letzten Jahre sind frisch, unverarbeitet, roh. Irgendwann kommt der Schmerz. Murakami würde dazu sagen: Schmerz ist unausweichlich. Nur das Leiden, das ist optional. Im Leben auch? Ich weiss es nicht. Aber ich fühle mit Murakami: «Ich werde glücklich sein, wenn das Laufen und ich zusammen alt werden dürfen.»