Zwölf Stunden

22.12.2023Text: ADRIANA RUZEK, Illustration: KATRIN VON NIEDERHÄUSERN

ADRIANA RUZEK

ADRIANA RUZEK ist Co-Geschäftsleiterin und Gassenarbeiterin bei Schweizer Peter, Verein für Gassenarbeit Basel.

Durch die Linse unserer aufsuchenden Sozialarbeit sehen wir – wie es der Soziologe Hans Paul Bahrdt einst ausgedrückt hat – öffentliches Leben auf der anschaulichsten lokalen Ebene, nämlich als Rendezvous der Gesellschaft mit sich selbst. Der Verein für Gassenarbeit Schwarzer Peter ist seit vierzig Jahren regelmässig auf den Basler Strassen unterwegs. Als Gassenarbeiter*innen begegnen wir Menschen, die draussen leben, schlafen, sich treffen. Ihre Wohnzimmer sind die unterschiedlichsten Plätze dieser Stadt. Menschen möchten sehen und gesehen werden, und so dient der öffentliche Raum als Bühne. Was wir dort tagtäglich sehen, ist grosses Kino. Es wird vorbeigeeilt, gewartet, sich ausgeruht, musiziert, getanzt, getrunken, diskutiert, verhandelt, herumgebrüllt, gestritten, getröstet, geliebt, entliebt, geweint, aufgemuntert und vernetzt.

Wir verbrachten dieses Jahr jeweils zwölf Stunden am Stück an den Hotspots am Bahnhof und am Claraplatz. Ein Auszug aus dem Protokoll:

08:35 Das Schiefe Eck rüstet auf: Sonnenschirme, damit das Tageslicht die Stammkundschaft nicht daran erinnern kann, dass bereits Morgen ist. I nimm no eins!

08:45 Der erste Zuhälter trägt seinen Moustache über den Claraplatz. Hose tight, er relaxed, aber zielstrebig.

10:45 Der Claraplatz ist endgültig erwacht. Vorherrschende Kopfbehaarung: weiss oder spärlich. Altersdurchschnitt: deutlich gestiegen. Switch von Pendler*innen zu Pensionär*innen. Der Claraplatz liegt in Falten. Wir besetzen den Sarg.

11:11 Passanten echauffieren sich über den UBS-Deal: «S’isch ebbe nid so, dass dr Arbeiter d’Boni griegt. Das griege numme die obenuuse» – word bro! Alle machen einen Bogen um die Filiale der CS. Damit will niemand mehr etwas zu tun zu haben.

12:30 Schichtwechsel am Bahnhof: D. wagt ein Tänzchen auf dem Vorplatz. Ihr Haar fungiert als natürliches Lifting, das Bier als Energielieferant. Die Miene missmutig und betrübt.

14:50 Wir wechseln zum Meret-Oppenheim-Platz aka Mop. Wir dringen weiter in die Eingeweide des Bahnhofs vor. Stirnlampen-Check!

15:00 Die Katakomben der alten Passerelle duften nach Urin, das Parkhaus ist leer, in der Alten Post geht nicht die Post ab, stattdessen Staub und Spinnweben. Wir entdecken einen Raum für Tangokurse oder eine ehemalige Fuudibeiz.

16:16 A. schnorrt uns an und fragt bei der Gelegenheit, ob wir Bitcoins monatlich abrechnen oder wie wir das handhaben. T. will uns aus der Hand lesen. Es folgt eine Zukunfts- und Charakteranalyse.

17:35 Der Löffelimann betritt die Szene.

17:37 Der Löffelimann verlässt die Szene.

17:50 Die Pendler*innenströme nehmen ab. Die Stimmung nicht. Der Wodka fliesst. Die Boxen werden aufgedreht. Wir hören «Bella Ciao» zum 99sten Mal. Wir schreien uns gegenseitig an.

18:18 Claracrew am Feiern. Pegel hoch, Stimmung hoch, Drama auf Anschlag. Hund S. will nicht essen, G. sollte weniger trinken, O. sollte zunehmen und M. söll doch jetzt gopferdammi nomol sini Schnuure halte.

19:20 Die Sonne geht unter, G. geht heim, das Licht geht an, die Dealer kommen raus.

20:35 Feierabend zur Primetime. Ein kleines Grüppchen verteidigt tapfer die Grenzen des autonomen Glaibasel. Und M., der alte Höschbrueder, hält die Stellung bis zum bitteren Ende.

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