Am Anfang anfangen
HAYAT ERDOĞAN
HAYAT ERDOĞAN ist Co-Direktorin und Dramaturgin am Theater Neumarkt Zürich.
Neulich rede ich mit einem Theaterdirektor. Er ist neu in Zürich und möchte verstehen, welche Geschichten die Leute hier mögen, mit welchen Ästhetiken sie sich identifizieren.
Welche Leute meinst du, frage ich, die sind ja keine einheitliche Geschmacksmasse. Aber anstatt über Diversität und multigrafische Entwicklungen zu sprechen, über ästhetischen Anspruch und erzählerische Anliegen zu diskutieren, antworte ich:
Die Frage, die ich mir aktuell stelle, lautet «Was brauchen die Leute gerade?»
Vielleicht brauchen wir, die Leute, derzeit mehr denn je Ruhe, Trost, Verbundenheit, Sinn, Freude, Spiel, Humor. Sehnsüchte, die wir alle kennen, die das Begehren und das Bedürfnis nach Erfüllung anstacheln, die aber vor allem unerfüllt bleiben. Leerstellen, die wir nicht über Begriffszugehörigkeiten, über Milieuzugehörigkeiten, über bürgerliche oder popkulturelle Codes, über Stückekanons, über Moral oder über unterkomplex geführte Debatten füllen können. Ich jedenfalls kann mir kaum vorstellen, dass sich irgendwer nach mehr öffentlichem Diskurs sehnt, der auf einem begriffsverhärteten, gesinnungsgeschwängerten Meinungsplateau um Deutungshoheit kämpft, sage ich. Welche Erfüllung sollte darin liegen?
Vielleicht also brauchen die Leute mehr hiervon: Gefühlsmässige Verbindungen, ästhetische Gemeinschaften – wo die Sinne berührt werden, Sinn sich in Sinnlichkeit zeigen kann, Begriffe sich in weichen Wahrnehmungen im Spiel langsam auflösen können. Und vielleicht müsste man dafür Begriffe, die harte Werte-, Überzeugungs- und Gesinnungszugehörigkeiten schaffen, überschreiben und zurückerobern. Zum Beispiel mit Geschichten vom gefühlsmässigen Sinn, über sinnliche Verbindungen. Mit Begriffen, die sanft von Ideologie befreit wären, im ästhetischen Spiel unserer Sinne, durch die Offenheit unserer Wahrnehmungen – in all ihrer Ambivalenz.
Resolution Neues Jahr: alte Worte, neues Wörterbuch. Keine marktgängigen Begriffe mehr, die den gegenwärtigen Diskurs dominieren. Andere Leerstellen. Denn in der Lücke liegt das Glück, Gelücke (mhd.). Am Anfang war also die Auslassung und der
Anfang ist etwas, das allen Dingen vorausgeht, ist das, dem nichts vorhergehen muss.
Anstand
Aufhaltung Keine vorschnellen Schlussfolgerungen. Eine gute Geschichte hat unvorhergesehene Wendungen, verschiedene Stränge. Geduld.
Bindung «Die Fortdauer eines auf der schlechten Zeit des Takts angeschlagenen Tones, bis in die gute Zeit.» (Johann Georg Sulzer, 1771)
Charakter
Dost tr. Freund:in. Dazu Musik, und zwar «Bütün Dünya Senin Olsun» in der Version von Cem Yıldız. Möge die ganze Welt Dein sein, «bir dost bir post yeter bana».
Einbildungskraft
Freude Goliarda Sapienza, Die Kunst der Freude. Roman.
Gossip Für ein notwendiges Revival aus dem Geiste der Frauenfreundschaften. Gegen das Vergessen von Gegennarrativen, für Geschichten der Vergessenen gegen heteronormative Standards. Vgl. Silvia Federici, Witch, Witch-Hunting, and Women.
Grief «Es ist genug Trauer für alle da» (Max Czollek). Im Gefühl der Trauer könnte ein verbindendes Moment der Versöhnung liegen. Weil: «Trauer(n) ist ein politischer Akt» (Judith Butler). Wir sind «United in Grief» (Kendrick Lamar). Siehe: Festival über Trauer(n), Theater Neumarkt, 17. bis 20. Januar 2024.
Haltung Ästhetischer Begriff. Was nah erscheint, was fern, ist eine Frage der Perspektive, die man einnimmt. Tiefe entsteht, wenn wir uns bewegen. Was wir sehen und denken, ist so beweglich, wie wir uns dazu ins Verhältnis zu setzen vermögen. In einer haltlosen Zeit, gegen ungehaltenes begriffsmässiges Gemeine hilft: Bewegung, Perspektiv- und Lichtwechsel. Auch gut gegen Haltungsschäden.
Hayat tr. Leben. Enthält alles, was wir wissen müssen: Nichts daran ist selbstverständlich. Don’t take it for granted.
Zeichenzahl ist hier aufgebraucht. Auf den Anfang, also: Happy 2024.