Als Minderheit auf der Gasse

26.12.2023Text: NORA HUNZIKER, Illustration: KATRIN VON NIEDERHÄUSERN

NORA HUNZIKER

NORA HUNZIKER arbeitet als Gassenarbeiterin in der Stadt Bern. Sie leitet den Schreibnachmittag und das Magazin «Mascara».

Seit Jahren treffen wir immer mehr (lesbische) Frauen, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen (im Folgenden: FINTA) auf der Gasse an. Es sind Personen, die nicht der sogenannten Heteronormativität entsprechen, also nicht heterosexuell und nicht «einfach Mann oder Frau» sind. Offenbar sind immer mehr FINTA obdach-, wohnungslos und armutsbetroffen oder müssen sich allgemein im öffentlichen Raum aufhalten.

Es handelt sich um eine besonders vulnerable Gruppe. Tatsächlich sind wir gesamtgesellschaftlich immer noch weit von einer reellen Gleichstellung aller sexuellen und Gender-Identitäten entfernt. Bestehende diskriminierende und gewaltvolle Mechanismen wie die allerorts vorherrschende Trennung in Männlein und Weiblein sowie Vorurteile und Hass gegen jene, die diesen althergebrachten Kategorien nicht entsprechen, wirken sich besonders stark auf der Gasse aus: Dort ist die Welt zwar keine andere, aber sie ist unmittelbarer, direkter und härter. Weil armutsbetroffene und sozial ausgegrenzte Menschen häufig im Konflikt mit ihren Familien und ihrem sozialen Umfeld liegen, haben sie auch weniger Ressourcen zur Bewältigung sexualisierter Gewalt oder anderer Unterdrückungsmechanismen. Personen mit einem funktionalen sozialen Netzwerk und ausreichend finanziellen Mitteln sind in einer ganz anderen Lage. So kann ein sexualisierter Übergriff leichter abgewehrt werden, der Rückhalt einer befreundeten Person kann in Anspruch genommen werden, therapeutische Hilfe gesucht. Viele können sich zudem juristischen Beistand leisten. Selbstverständlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich jede Frau selbstbewusst gegen sexuelle Übergriffe wehren kann, wenn sie denn nur in stabilen Verhältnissen lebt. Aber viele armutsbetroffene FINTA haben oft gleich mehrere der Möglichkeiten gar nicht, sich zur Wehr zu setzen.

Oft geht es auch um Selbstwert, der über die Jahre in Armut und Notsituationen sinkt. FINTA in prekären Lebenslagen haben häufig das Gefühl, dass sie sich vieles gefallen lassen müssen und selten Unterstützung erleben. (Man erinnere sich an Frauenerzählungen früherer Generationen.) Wir stellen beispielsweise fest, dass FINTA aus Scham spät um Hilfe bitten. Sie machen Deals, um nicht draussen übernachten zu müssen – wo es sehr gefährlich ist. Häufig übernachten sie bei Bekannten, die als Gegenleistung sexuelle Handlungen einfordern. Während ein Teil der Gesellschaft über «nur Ja heisst Ja» diskutiert, geht es bei vielen FINTA ums reine Überleben und Durchkommen.

In der Sozialberatung führen wir viele Gespräche über Konsens und dass sich mensch nicht alles gefallen lassen muss. Wenn wir eine FINTA-Person unterstützen wollen, beispielsweise dabei, aus einer gewaltvollen Beziehung zu entkommen, sind uns aber schnell Grenzen gesetzt. Viele können sich ein Leben allein finanziell nicht leisten. Das gilt auch, wenn sie Sozialhilfe beziehen, weil der Übergang sehr schwer und der Prozess träge ist, sodass die Existenzangst überwiegt. Zudem lehnen Schutz-/Frauenhäuser gewaltbetroffene FINTA in der Regel ab, wenn sie suchterkrankt sind. Hier fehlen spezialisierte Angebote, wo wohnungslose FINTA ausreichend geschützt sind. Auch darf Sucht kein Ausschlusskriterium für den Zugang zu Schutzinstitutionen sein, da dies schon lange nicht mehr dem zeitgemässen Umgang mit Suchterkrankungen entspricht.

Besonders prekär ist die Situation für nicht-binäre und trans Menschen. Fast alle Wohnangebote und Notschlafstellen sind binär nach Geschlechtern getrennt. So erleben sie in sozialen Organisationen und Notangeboten zusätzlich Angst und Stress, weil es für sie keine sicheren Räume gibt. Es wäre an der Zeit, zusätzliche Angebote zu schaffen, die tatsächliche Sicherheit bieten und nicht Sexismus und Transfeindlichkeit reproduzieren.

 

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