Plan B

03.01.2024Text: ANINA RITSCHER, Illustration: Katrin von Niederhäusern

ANINA RITSCHER

ANINA RITSCHER ist Redaktorin und Journalistin. Sie recherchiert zu Themen rund um Recht und Gerechtigkeit.

Neulich besuchte mich ein Freund aus Deutschland. Die Schweizer Wahlen standen bevor, und während eines Spaziergangs erklärte ich ihm das hiesige politische System. Er hatte die Schweiz in all den Jahren, in denen wir uns kennen, immer belächelt. Es sei ihm zu ordentlich hier, zu piefig – und vor allem, natürlich: zu teuer. Doch an diesem Tag, als er von Zauberformel und Konkordanzsystem erfuhr, brach Begeisterung aus ihm heraus.

«Hierher kann ich kommen, wenn es in Deutschland schlimmer wird», sagte er. Falls der AfD-Politiker Björn Höcke Thüringer Ministerpräsident werden und damit das höchste Amt des Bundeslands bekleiden sollte, beispielsweise. «Für diesen Fall brauche ich einen Plan B», fand mein Freund. Ein Ministerpräsident Höcke wäre für ihn aus unterschiedlichen Gründen auch persönlich gefährlich. In der Schweiz gebe es, so seine Analyse, weniger Risiken für einen plötzlichen rechten Umsturz. Der systemimmanente Kompromiss verhindere das.

Ich musste an meine Grosseltern denken, die in den Fünfzigerjahren aus Deutschland in die Schweiz ausgewandert waren. Auch sie flohen aus einem Land, in dem nach wie vor Nazis in den Ämtern, im Bildungssystem und auch sonst überall sassen. Mein Urgrossvater wurde von den Nazis als «Landesverräter» ermordet. Erst fünfzig Jahre später rehabilitierte ihn der deutsche Staat. Bis dahin galt er den Behörden als angeblicher Sowjetspion und Kommunisten-Kollaborateur. Für meine Grosseltern war die Schweiz der Ort, der von diesen Abscheulichkeiten weitgehend unberührt war.

Zwar stimmt das nicht ganz, immerhin wies man hier ab 1942 «Flüchtlinge nur aus Rassengründen» an den Grenzen ab und schickte Tausende in den Tod. Auch wurden echte und vermeintliche Kommunist*innen zeitweise verfolgt. Etwas ist dennoch wahr: Radikale politische Wendungen sind in der Schweiz eher unwahrscheinlich. Man kann das positiv sehen. Viel schlimmer wird es in absehbarer Zeit vermutlich nicht.

Besser wird es aber genauso schleppend. Denn Veränderungen gibt es in diesem Land fast nie. Man neigt sich höchstens sachte mal zur einen, mal zur anderen Richtung. Der Status quo bleibt Staatsräson. Die Stabilität ein Segen, nach dem sich – verständlicherweise – viele sehnen.

Für mich ist das kein Trost. Denn der Status quo liegt weit rechts. Das Land, in dem ich lebe, ist eines, in dem die grösste Partei seit Jahrzehnten gegen Migrant*innen hetzt. Wo Armut nicht abgeschafft, sondern unsichtbar gemacht wird. Und das sich mit der eigenen Verflechtung in der Welt partout nicht beschäftigen will, weder historisch noch im Jetzt, aber profitiert, wo es geht. Ich kann meinem Freund einen «Plan B Schweiz» daher nicht ans Herz legen. Die Frage «Wohin denn dann?» wird allerdings mit jedem Wahlsieg der Demokratiefeinde – von den Niederlanden bis nach Argentinien – schmerzlich schwerer zu beantworten.

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