«Ich war 15, als die 68er-Bewegung in Basel langsam um sich zu greifen begann. Alles war damals interessanter als Schule für mich, ich war leichte Beute. Ich brach das Gymnasium ab, und das Leben war gut. Mit 18 eröffneten ich und meine Freunde das erste makrobiotische Restaurant in Basel, am Claragraben. Ein Jahr später wurde daraus das Autonome Jugendzentrum, und ich ging auf Reisen. Afghanistan blieb mir besonders in Erinnerung, ich war da sicher ein halbes Jahr.
Als ich zurückkam, machte ich eine Ausbildung zum Programmierer. Ich fand einen super Job, aber an meinem ersten Arbeitstag begrüsste mich im Büro statt dem Chef die Polizei und packte mich direkt ein. Hasch- verkauf gab damals zwei Jahre. Nachher war es natürlich erst einmal vorbei mit jeglichen Karriereambitionen oder Familienplänen.
Ich wohnte in Kommunen oder WGs, und mein Weltbild änderte sich. Bald besetzten wir Häuser. Das war nur so halb legal, aber es war die einzige Lebensform, die uns erstrebenswert erschien. Wir wurden Idealisten. Zeitweise waren wir sogar sehr radikal. Einfamilienhäuser, Monogamie, eigene Zimmer, all das war für uns der Kapitalismus und somit nicht tragbar. Bis tief in die Achtziger glaubten wir an die Revolution. Wirklich, wir glaubten das, wir sagten uns von unseren Familien los, brachen unsere Ausbildungen ab, weil wir daran glaubten, dass etwas Grösseres bevorstand. Irgendwann wachten wir einer nach dem anderen auf.
Für mich bedeutete das erst einmal einen erneuten Absturz in die Drogen. Diesmal blieb es nicht beim Hasch. Ich hielt eine bürgerliche Fassade aufrecht mit Frau und Einfamilienhaus, dahinter aber dealte und konsumierte ich. So waren schnell ein paar Jahre vorbei. Irgendwann erledigte sich dieses Doppelleben aber von selbst. Meine Freunde fingen mich auf, das war sicher wichtig für mich. Aber es war natürlich zu spät. Ich war ein Mittvierziger ohne Ausbildung, also blieb mir der Arbeitsmarkt verschlossen.
Die nächsten paar Jahre verkroch ich mich in meiner Einzimmerwohnung. Dann, mit 55, bekam ich beim Roten Kreuz eine Schnellausbildung zum Pfleger und fand sogar ein Praktikum. Das gefiel mir wirklich gut. Meine Chefin kämpfte für eine Festanstellung für mich, aber als Arbeitnehmer in diesem Alter wäre ich zu teuer geworden. Also mischelte ich mich irgendwie durch, und jetzt bin ich seit einem Jahr Rentner. Von einer Freundin erfuhr ich, dass Surprise einen Stadtführer für den Sozialen Stadtrundgang sucht. Das sprach mich an, ich glaube, dass ich das gut könnte. Ich kenne eine dunkle Seite dieser Stadt.
Kurz nachdem ich mich bei Surprise meldete, wurde ich zu einer Chorprobe eingeladen. Weil ich zuvor zufällig auch die Chorleiterin an einem Sommerfest kennengelernt hatte, ging ich einfach mal hin. Im Strassenchor wird viel Wert auf das «wir» gelegt, das spricht mich immer noch an. Egal, ob bei Auftritten oder einfach nur in der Probe, wir machen das zusammen. Und das, obwohl die Leute unterschiedlicher nicht sein könnten. Das tut mir gut. Ich war jetzt zwei Winter lang zu oft alleine. Ich würde mich eigentlich nicht als musikalische Person bezeichnen, aber meiner Stimme beginnt man das Üben langsam anzumerken. Das ist motivierend. Ich bin immer noch daran interessiert, Stadtführer zu werden, aber im Chor bleibe ich auf jeden Fall.»
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 400 des Surprise Strassenmagazins.