«An meine früheste Kindheit kann ich mich nicht erinnern, ich wuchs bei einer Pflegefamilie auf, meine Schwester und mein Bruder wurden anderswo untergebracht. Meine Pflegemutter war eine gute, ich habe sie ‹Grossmami› genannt. Als ich mit sieben eingeschult wurde, kam ich mit meinen Geschwistern zurück zu den Eltern. Damals hatten wir so etwas wie ein Familienleben.
An den Kindergarten und die Schule denke ich nur ungern zu rück, das war dramatisch und traumatisch für mich. Depressi onen, Ängste und Hilflosigkeit bestimmten mein junges Leben. Am schlimmsten war, dass ich mehrmals im Jahr für Wochen ins Spital musste, zur Behandlung diverser Geburtsgebrechen. Meine Kindheitserinnerungen bestehen nur aus Spritzen, Narkosen und Operationen. Die Ärzt*innen hatten Probleme, mich ruhigzustellen. Ich erinnere mich gut an diese Angst in mir und das Gefühl, ich müsse unbedingt weg. Diese Fluchtge danken sollten mich ein Leben lang begleiten.
Nach der Schule ging ich auf die Dolmetscherschule, ich machte Sprachaufenthalte in England und Italien. Dann traf ich meine spätere Frau, sie überredete mich, zu ihrer Familie nach Mexiko zu ziehen. Nach einiger Zeit musste ich zurück, ich wollte meine CBewilligung nicht aufs Spiel setzen. Sie kam später nach, wurde schwanger. So musste ich die Schule abbrechen und Arbeit suchen.
Es kamen harte Jahre, ich hatte teilweise zwei Jobs aufs Mal. Den einen tagsüber als Lagerist, den anderen als Nachtportier. Auch für die Familie war das eine Belastung, wir hatten inzwischen zwei Söhne. Ich dachte immer: Wenn du nur fleissig bist, hast du auch Arbeit und kannst deine Familie durchbringen. Denkste! Ich verlor den Job. Kam hinzu, dass ich Herzprobleme hatte. So musste ich kürzertreten.
Mit den Existenzängsten kamen die Depressionen wieder. Ein schlimmer Zustand, man hält nichts mehr von sich selbst, will nur noch eins: sterben. Trotzdem habe ich mich immer wieder aufgerafft und versucht, einer Arbeit nachzugehen und für meine Kinder zu sorgen. Unsere Ehe hielt der Belastung aber nicht stand, wir liessen uns scheiden. Meine Ex-Frau und ich versuchten, unsere Kinder zu ihrer Familie nach Mexiko zu bringen. Zwar konnten sie dort auf eine Privatschule und waren umsorgt, trotzdem war die Trennung für mich schlimm.
Ich hatte damals zwar Arbeit, eine Freundin, eine Wohnung. Und doch fühlte ich mich verloren – noch immer war ich der Ausländer, der Italiener, der Fremde. Dann verlor ich wieder einmal den Job, die Depressionen nahmen zu, ich hatte keinen Halt mehr. So stieg ich in mein Auto und fuhr einfach auf und davon.
So begann mein Roadmovie. Ein Jahr war ich unterwegs. Ich schlief in meinem weissen Kombi, im Wald, in Klöstern, suchte mir Arbeit, manchmal musste ich mir Essen und Benzin stehlen. Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen. In dieser Zeit traf ich aber auch Menschen, die mir vertrauten und für die ich nicht der Ausländer war – das tat mir gut. Mit der Zeit wurde ich polizeilich gesucht, da wusste ich: Jetzt muss ich zurück und wieder vernünftig werden. Zum Glück fand ich rasch Arbeit, sodass ich wieder für die Kinder – sie waren inzwischen aus Mexiko zurück – sorgen konnte.
Mehr kann ich zu dieser Lebensphase nicht sagen, ich muss selber noch einen Weg finden, um das Ganze einzuordnen. Ich glaube, was ich als ‹Roadmovie› bezeichne, ist ein Muster und hat viel damit zu tun, dass ich flüchten will, wenn ich enttäuscht werde, Ängste spüre oder wenn schwere Entschei dungen anstehen. Diese Fluchtgedanken hatte ich schon als Kind. Damals konnte ich nicht fliehen, als Erwachsener schon. Aber das soll keine Ausrede sein. Heute versuche ich, in diesen Situationen zwei Schritte zurückzutreten, weitere Kurzschlusshandlungen zu vermeiden – was nicht immer klappt – und möglichst keinen Mist mehr zu bauen.»