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Die Sozialzahl
Die Willkür von Armutsgrenzen

Wer wissen möchte, wie viele Armutsbetroffene ein Land hat, kommt nicht darum herum, eine Einkommensgrenze zu ziehen, die arme von nichtarmen Personen trennt. Bis heute gibt es keine breit anerkannte wissenschaftliche Methode zur Bestimmung dieser Einkommensgrenze. Jede sozialpoli­tische Festlegung des Existenzminimums ist daher nicht frei von Willkür.

Die meisten Kantone, aber auch das Bundesamt für Statistik sowie die Mehrheit der Forschenden orientieren sich an den Empfehlungen der Schweizerischen Konferenz für Sozial­hilfe SKOS. Demnach ergibt sich das soziale Existenz­ minimum aus der Summe von Grundbedarf, Miete, Kranken­kassenprämie und situationsbedingten Leistungen. Weil die Miete und die Krankenkassenprämie vom Wohnort abhängig sind, berechnet das Bundesamt für Statistik gesamtschweizerische Durchschnitte. Im Jahr 2020 betrug die Armutsgrenze durchschnittlich 2279 Franken pro Monat für eine Einzelperson und 3963 Franken pro Monat für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern.

Wie sensitiv die Zahl der Armutsbetroffenen auf die Festlegung der Armutsgrenze reagiert, zeigt exemplarisch eine Studie der Berner Fachhochschule, die in einem Positionspapier von Caritas Schweiz zusammengefasst wird. Die Studie basiert auf Steuerdaten des Kantons Bern für das Jahr 2015. Ausgewer­tet wurden die Einkommensdaten von Haushalten mit Personen im Erwerbsalter. Rentner*innenhaushalte wurden nicht berücksichtigt.

Wird die Armutsgrenze gemäss den SKOS­Richtlinien verwendet, beträgt die Armutsquote im Kanton Bern im Untersuchungs­jahr 7,7 Prozent. Bei einer Anhebung der Armutsgrenze des oben angegebenen sozialen Existenzminimums um 100 Franken (für eine Einzelperson und äquivalent für grössere Haushalte) steigt diese auf 8,7 Prozent. Bei einer Erhöhung um 500 Franken verdoppelt sich die Armutsquote nahezu und beträgt 14,4 Prozent. Wird die Grenze angewendet, die bei der Berechnung von Ergänzungsleistungen massgeblich ist und die nochmal 130 Franken höher ist, so steigt die Armutsquote auf 18,3 Prozent. Über diese vier Stufen hinweg nimmt die Zahl der armuts­ betroffenen Personen im Kanton Bern für das Jahr 2015 von 53 430 auf 126 308 zu.

Diese Sensitivitätsanalyse zeigt in aller Deutlichkeit, dass sehr viele Haushalte in der Schweiz ein Einkommen erzielen, dass nur knapp über dem sozialen Existenzminimum der SKOS liegt. Bei kleinsten Veränderungen der Einkommenssituation oder unerwarteten Ausgaben können diese Haushalte in die Armut abrutschen. In dieser Zone der Armutsgefährdung finden sich besonders viele Familien. Kinder führen nicht nur zu Mehrkosten, sondern oft auch zu tieferen Einnahmen, wenn die Eltern ihr berufliches Engagement einschränken müssen, um ihren Nach­ wuchs zu betreuen. Sozialpolitisch liegt auf der Hand, was zu tun wäre. Man müsste schweizweit die Ergänzungsleistungen auf Familien in schwierigen finanziellen Verhältnissen ausweiten. Das Anliegen scheiterte vor 20 Jahren auf Bundesebene. Vier Kantone kennen dieses Instrument inzwischen. Ein neuer Anlauf für eine nationale Regelung ist dringend geboten.