
Serie: Die Unsichtbaren
«Ein schöner, abwechslungsreicher Job»
Ein angeregtes Gespräch über menschliche Ausscheidungen zu lancieren, ist eine Spezialität von kleinen Kindern. «Aber Mama, was passiert mit dem Gaggi?», wollen die Kleinen wissen, wenn sie auf dem Thron sitzen (ebenfalls verbreitet sind kichernd vorgetragene, weniger konstruktive Versuche am Esstisch). Dann folgen Geschichten von unterirdischen Rohren, riesigen Säuberungsanlagen, vielleicht sogar von Verbrennungstürmen oder Wertstoffrückgewinnung. Ehrlicher aber wäre eine andere Antwort: Wenn du spülst, kümmern sich andere Menschen um die Drecksarbeit. Menschen wie Rey Eyer.
Jeden Morgen um 6 Uhr 15, nach einer Zigi und ein paar Hallos, füllt Rey Eyer eine Halbliterflasche, um zu prüfen, was ihm aus zigtausenden Zürcher WCs alles so entgegengespült wird. Eyer arbeitet im Klärwerk Werdhölzli in Zürich, der hierzulande grössten Anlage ihrer Art. Mehr als 80 Mitarbeitende sind damit beschäftigt, die Ausscheidungen von über 700 000 Menschen aus der Stadt Zürich und Umgebung zu managen. Die «Klärwerk-Fachmänner und Fachfrauen», wie die umgeschulten Metzger*innen, Hauswart*innen, Mechaniker*innen oder Sanitär*innen heissen, entleeren, reinigen und reparieren Rohre, Becken und Anlagen, bevor das Wasser einen Kilometer weiter stadtauswärts aus drei unscheinbaren Rohren in die Limmat fliesst – so sauber, dass Zürcher*innen darin baden können.
«Hier nehmen die Geruchsemissionen zu», warnt der grossgewachsene 48-Jährige mit Kurzhaarschnitt und Ohrringen, uniformiert in oranger Leuchtjacke und blauem Overall. Dann öffnet er die Tür zum sogenannten Rechengebäude. Drinnen wird er deutlicher: «Hier kommt der ganze Dreck an.» Er deutet auf einen sanft fliessenden Abwasserkanal, der sich in Richtung eines grossen Rechens bewegt. Dort bleibt das Gröbste hängen. Einige Mitarbeitende müssten den Kanal täglich mithilfe eines Krans freibaggern, erzählt er.
Eyers einziger Job hier drinnen ist die tägliche Entnahme der Probe. Dafür kippt er einen Behälter, der im Fünfminutentakt automatisch mit ein paar Tropfen Abwasser gefüllt wird, vorsichtig über seine mitgebrachte Flasche. Diese packt er in eine Kiste und schickt sie den Wissenschaftler*innen des Wasserforschungsinstituts Eawag in Dübendorf. Dort wird das Abwasser unter anderem auf Covid-Rückstände analysiert. Auf diese Weise lässt sich herausfinden, wie verbreitet das Virus ist. «Abwasser lügt nicht», heisst es. Auch Rückstände von Kokain,Medikamenten oder Tabak im Abwasser erwecken immer mal wieder das öffentliche Interesse. Ansonsten ist das Klärwerk am Stadtrand vor allem eine Anlage, die es uns erspart, uns allzu lange mit unseren Ausscheidungen aufzuhalten. Spülen und weg damit.
Im Mittelalter und noch bis vor 150 Jahren war das nicht möglich. Die Kloake ging alle an, denn die Gerüche aus den Gassen waren kaum zu ignorieren. Damals wurden die Fäkalien mehr oder weniger auf die Strasse geworfen. In Städten verbreitet waren offene, enge Gräben zwischen den Häuserreihen. Auf dem Land wurde das Geschäft auf dem Feld oder zuhause über Löchern im Boden verübt, von wo es direkt in den Viehstall fiel. So eklig das aus heutiger Perspektive klingen mag: Überliefert ist, dass sich die Menschen an den Gerüchen nicht allzu sehr störten. Schamgefühle, wie wir sie heute kennen, entwickelten sich erst später.
Ganz im Gegenteil soll es Zeiten gegeben haben, als sich die Menschen dagegen wehrten, dass andere ihre Ausscheidungen abtransportieren. Denn Kot und Urin wurden in der Landwirtschaft als Dünger gebraucht, die gesammelte Kloake hatte also einen Wert. Heute hingegen spülen wir, zumindest in der Schweiz, unser Geschäft mit Trinkwasser herunter. Neun Liter beim grossen Knopf, sechs Liter beim Kleinen. Und sind froh, dass sich andere um den Rest kümmern.

Eyer verlässt das Rechengebäude, das den Anfang des Klärprozesses markiert, und macht sich auf den Weg zur biologischen Reinigung, der zweiten von insgesamt fünf Reinigungsstufen. Die Distanzen läppern sich, häufig ist Eyer mit dem Velo oder, wenn er etwas zu transportieren hat, in einer Art Golfwagen unterwegs. Zwischen mehreren grossen, blubbernden Wasserbehältern, die aussehen wie 50-Meter-Schwimmbecken, bleibt er stehen. Hier wandeln Mikroorganismen im Wasser enthaltene Schmutzstoffe um, wie zum Beispiel Ammonium oder Phosphate. «Das sind die fleissigsten städtischen Mitarbeiter», bemerkt er in dem für ihn typischen saloppsarkastischen Ton und setzt noch einen obendrauf: «Ohne sie würden die Fische auf dem Rücken schwimmen.» Während Kleinstlebewesen wie Bakterien oder Fadenwürmer also die Hauptarbeit erledigen, prüft Eyer den Betrieb auf regelmässigen Rundgängen («lose, luege, schmöcke»), repariert bei Bedarf oder kalibriert Messgeräte.
Eyer hat kein Problem mit Vorurteilen gegenüber seinem Beruf; dass es Leute gibt, die ihn für seine Arbeit belächeln. In Männerrunden, die bei der Ausübung seiner Hobbys – Heli-Snowboarding und Pistolenschiessen – durchaus verbreitet sind, würde er den blöden Sprüchen zuvorkommen. «Ich sage, dass ich beim Füdli der Stadt arbeite.» Es braucht etwas Selbstironie, damit die Menschen mit ihm und nicht über ihn lachen.
Man muss Rey Eyer deswegen nicht bemitleiden. Erstens stinkt es längst nicht überall so wie im Rechengebäude. Im Gegenteil: Manches hier, wie etwa die «Ozonungsanlage» – voll mit grossen Stahltanks, Kupferrohren, Messgeräten –, könnte man sich auch in einer Lebensmittelfabrik vorstellen (zur Rolle des Ozons siehe Box auf Seite 13). Und draussen, mit Bäumen, Moos, Vögeln und sogar einem Badesteg, ist es fast schon idyllisch. Zweitens ist die Arbeit im Klärwerk durchaus anspruchsvoll. So wirft sich Eyer an zwei bis drei Tagen pro Woche den weissen Kittel über und prüft das Abwasser zur Qualitätssicherung im Labor. Auch ist er, seit elf Jahren im Beruf, der zuständige Mitarbeitende der hochtechnologischen Ozonungsanlage.
Die Forschenden der ETH gucken immer zu
Kommt dazu, dass Eyer mit dem Job bei Entsorgung und Recycling Zürich der Prekarität überhaupt erst entkommen ist. Nach einer Lehre als Maschinenmechaniker hatte er zwanzig Jahre lang in der Industrie gearbeitet. Er fräste, drehte, erodierte, daraus entstanden Bauteile für die Industrie. Sein Arbeitgeber war ein Familienunternehmen, der Lohn bescheiden, die Arbeitslast gross, Feierabende und Wochenenden variabel. «Die Laufzeit der Maschinen hatte Priorität», sagt Eyer. «Wie es mir ging, war weniger wichtig.» Er habe das Wasser stets bis zum Hals gehabt. Die Stelle bei der Stadt war ein Ausweg: geregelte Arbeitszeiten, guter Lohn und «ein eigentlich schöner, abwechslungsreicher Job», wie er sagt.
Rey Eyers Handy klingelt, er zieht sich einige Meter zurück. «Schon wieder jemand, der ein Wässerchen will», kommentiert er, nachdem er aufgelegt hat. Nach dem Termin wird er noch einmal zurück zum Rechengebäude gehen, um eine Halbliterflasche abzufüllen. Nicht nur die Eawag, auch andere Forschende interessieren sich fürs Abwasser. Die ETH zum Beispiel betreibt seit fünf Jahren in einem Becken der biologischen Reinigung eine Installation, die den Austritt von Lachgas in die Atmosphäre kontrolliert. Vor Ort kommt aber nur sehr selten jemand von der bloss einige Velominuten entfernten Hochschule. Ist etwas mit der Anlage, sehen das die Forschenden auf ihren Bildschirmen. Und Eyer erhält einen Anruf mit der Bitte, er solle doch bitte einmal den Reset-Knopf drücken. Da er ja schon hier und dafür da ist.
Eyer steht nun vor einem Badehäuschen in der Sonne, nebenan lädt ein Becken mit Steg und Poolleiter zum Bad ein. Fehlen eigentlich nur das Glacé und etwas wärmere Temperaturen. Tatsächlich genossen hier bis vor kurzem städtische Mitarbeitende ab und zu ein sommerliches Bad. Der Direktor hatte ein ungenutztes Klärbecken kurzerhand zu einem Swimmingpool umbauen lassen – inklusive sauberem Wasser, versteht sich. Andernorts auf der Anlage liess er einen ungenutzten Raum in ein Oldtimer-Museum verwandeln. Wenn sie sich schon um die ganze Scheisse kümmern, so vielleicht die Überlegung, dann sollen sie es auch ein bisschen schön haben. Das ging nur so lange gut, bis Kritiker*innen darauf hinwiesen, dass Badeplausch und Autoshow mit Gebührengeldern finanziert wurden. Das Ganze endete in einem politisch-medialen Skandal und der unrühmlichen Absetzung des Direktors. Sowie mehreren Schildern, auf denen steht: «Baden verboten».