
60 Stadtführer*innen und Mitarbeiter*innen von Sozialen Stadtrundgängen trafen sich in Basel.
International Network of Social Tours
In Workshops die eigene Rolle schärfen
«Während meiner vierjährigen Obdachlosigkeit habe ich viel Diskriminierung erlebt, aber während des Workshops konnte ich erkennen, welche verschiedene Formen von Vorurteilen und Stereotypen es gegenüber uns Betroffenen gibt. Deshalb werde ich künftig auf meinen Touren noch deutlicher über Armut und Ausgrenzung aufklären», fasst der Surprise-Stadtführer Heiko Schmitz die dreitägige Weiterbildung Anfang September zusammen. Das internationale Netzwerk von Sozialen Stadtrundgängen (INST), das Surprise 2019 mitgegründet hat, lud rund 60 Gäste zu einer intensiven Auseinandersetzung zum Fokusthema «Armut und Obdachlosigkeit» nach Basel ein: Touranbieter*innen und Stadtführer*innen aus Deutschland, Österreich, England, Griechenland und der Schweiz setzten sich in verschiedenen Workshops sowohl mit strukturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch mit den verschiedenartigen biografischen Wegen in die Obdachlosigkeit auseinander.
Esther Mühlethaler und Institutsleiter Matthias Drilling, Dozierende der Hochschule der Sozialen Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz, hatten zusammen mit ehemals obdachlosen Stadtführer*innen einen professionellen Peer-Austausch für über 40 Stadtführ*innen aus Berlin, Athen oder Wien vorbereitet.Mühlethaler ist Mitglied des Forschungsnetzwerks Obdachlosigkeit der FHNW und forschte in einem internationalen Projekt zu sozialer Inklusion und Obdachlosigkeit. Drilling beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Obdachlosigkeit und Armut im internationalen Zusammenhang. Gemeinsam mit seinem Team erstellte er die erste Obdachlosenstudie der Schweiz. In ihrer Forschungstätigkeit beobachteten beide neben Unwissenheit und Stereotypen eine meist ablehnende Haltung gegenüber wohnungslosen Menschen. Strukturelle Gründe für Obdachlosigkeit wie mangelnder bezahlbarer Wohnraum in den Städten oder zu geringes Einkommen der Einzelnen werden nach Ansicht der beiden Wissenschaftler selten benannt – sowohl von Betroffenen als auch von Sozialinstitutionen, die mit obdachlosen Menschen in Kontakt stehen. Deshalb war die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Vorurteilen und Schuldzuweisungen der zentrale Fokus und Ausgangspunkt für verschiedene Workshops. Nach Abschluss der dreitägigen Peer-Weiterbildung planen die beiden Wissenschaftler voraussichtlich bis Ende 2022 die Produktion eines Booklets, welches über die Verflechtung von strukturellen und persönlichen Gründen informiert, die zu Obdachlosigkeit führen. Die Broschüre hat zum Ziel, mit Zahlen und Fakten sowie mit den persönlichen Erfahrungen der Stadtführer*innen eine breite Öffentlichkeit für die Lebensrealitäten der Betroffenen zu sensibilisieren. Der Inhalt der Broschüre wird sich an ein Publikum in Deutschland, Österreich und der Schweiz richten und wissenschaftliche Erkenntnis mit dem Erfahrungswissen der betroffenen Stadtführer*innen kombinieren. Auf welchem Weg sie zu bestellen sein wird, ist zurzeit noch in Abklärung.
Begleitet wurde die Weiterbildung von einer Podiumsdiskussion und der Ausstellung «Leben am Limit – Wege aus der Obdachlosigkeit» im Basler kHaus, die am 20. September zu Ende ging. Der Fotograf Charles Habib begleitet seit 2018 Personen, die in Basel auf der Strasse leben und zeigte nun erstmals seine Fotos. Während seiner Fotoreportage begann er die Geschichten von obdachlosen Menschen auch aufzuschreiben und erfuhr von ihren Schicksalsschlägen und ihrem Scheitern in der Gesellschaft. Er wollte von ihnen erfahren, wie sie in Basel überleben, wo sie ihre Tage und Nächte verbringen, Essen erhalten oder ihre Wäsche waschen können. Vier ehemals obdachlose Stadtführer*innen von Surprise, die insgesamt 14 Jahre auf der Strasse in Basel lebten, beantworteten während der Ausstellung täglich Fragen zu Obdachlosigkeit, Armut und Ausgrenzung. Gemeinsam hatten sie die Themenfelder entwickelt, die sie täglich während drei Stunden mit einem interessierten Publikum diskutierten. Es waren Fragen zu den Themen Verpflegung, Schlaf, Hygiene, Hilfsangebote, Unterwegssein, Rückzug, die ihnen oft auf ihren Touren der Sozialen Stadtrundgänge gestellt werden: Wo können obdachlose Personen gratis duschen? Welche Rolle spielt die Einsamkeit? Welche Hilfe ist sinnvoll? Ziel der Ausstellung war eine direkte Auseinandersetzung und Begegnung zwischen den Betroffenen und den Besucher*innen über ihre Wege aus der Obdachlosigkeit und ihr persönliches Engagement für ein menschenwürdiges Leben.
Hier gibts Infos zu den Sozialen Stadtrundgängen von Surprise.

International Network of Social Tours
INST, das internationale Netzwerk von Sozialen Stadtrundgängen, organisiert für Stadtführer*innen und Mitarbeiter*innen von Sozialen Stadtrundgängen jährliche Peer-Weiterbildungen und Austauschtreffen. Der gemeinnützige Verein aus Basel wurde 2019 von Anbietern von Sozialen Stadtrundgängen aus der Schweiz (Surprise), Schottland (Invisible Cities), Österreich (Supertramps) und Griechenland (Invisible Tours) auf Initiative hin von Paola Gallo, ehemalige Geschäftsführerin des Vereins Surprise, und Sybille Roter, Angebotsverantwortliche Soziale Stadtrundgänge bei Surprise, gegründet. Durch Austausch, Vernetzung und Weiterbildung soll eine grössere Sichtbarkeit dieser Touren erreicht werden, die von armutsbetroffenen und ehemals obdachlosen Menschen geleitet werden. Ein zentrales Ziel ist die gemeinsame gesellschaftliche Sensibilisierung sowie der Abbau von Vorurteilen gegenüber wohnungs- und obdachlosen Menschen. INST engagiert sich für die Förderung der Stadtführer*innen als gesellschaftliche Vermittler*innen und den Aufbau von weiteren Touren. Die diesjährige Peer-Weiterbildung mit dem Schwerpunktthema «Armut und Obdachlosigkeit» ist Teil eines dreijährigen Programms: 2023 folgt das Fokusthema «Armut und Bildung», 2024 «Armut und Frauen». Die Weiterbildungen im INST-Netzwerk umfassen neues Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten für Stadtführer*innen, Tourenanbieter*innen und Fachpersonen im Bereich der Armutsforschung.
