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Serie: Die Unsichtbaren
Kinderbetreuung massgeschneidert

Nannys werden immer beliebter, sie gelten als anpassungsfähig und zeitlich flexibel. Doch die Arbeit im Privathaushalt ist anfällig für Ausbeutung. Untereinander sind die Kinderbetreuerinnen kaum vernetzt.

Wenn Luisa Vogt* ihren Arbeitsplatz verlässt, stellt sie sich manchmal eine Linie auf der Strasse vor dem Haus vor. Sobald sie die Linie übertritt, lässt sie die Arbeit emotional hinter sich. Den Trick lernte sie, als sie einen Jungen mit einer geistigen Behinderung betreute. «Seine Gesundheit beschäftigte mich auch nach Feierabend», sagt Vogt, Mitte 50, hochgestecktes Haar und helle Bluse. Seit über zwanzig Jahren arbeitet sie mit Kindern. Erst sorgte sie für ihre eigenen, dann für die von Freund*innen und schliesslich für die Kinder von Fremden. In dieser ganzen Zeit war sie allein verantwortlich für die Sicherheit und das Wohlbefinden der Kleinen, dauerverfügbar für andere. Sie putzte Nasen, klebte Pflaster, klopfte den Dreck von Kinderknien.

Vogts Arbeitsplatz ist das Familienleben anderer Leute. Was sie macht, nannte sich früher Kindermädchen, heute heisst es Nanny. Vogt macht all das, was die Eltern tun würden, wenn sie nicht bei der Arbeit wären. Sie holt die Kinder ihrer Arbeitgeber*innen vom Musikunterricht ab, bringt sie zur Physiotherapie, fragt Vokabeln ab, hilft bei den Hausaufgaben. Sie kocht, bastelt, arbeitet auch mal im Garten, wäscht ab, räumt Spielsachen weg. Meistens ist sie zehn Stunden am Stück bei ihren Arbeitgeber*innen im Haus, manchmal länger.

Rund fünf Prozent der Kinder unter dreizehn Jahren werden in der Schweiz von Au-pairs, Nannys oder Babysitter*innen betreut – Tendenz steigend. Die Medien berichten gar von einem Nanny-Boom. Denn in immer mehr Familien arbeiten beide Elternteile in hochbezahlten Stellen. Diese verlangen eine Flexibilität, welche Kindertagesstätten nicht immer anbieten können. An manchen Wohnorten gibt es zudem kaum öffentliche Kinderbetreuung. Nannys hingegen passen sich an die individuellen Bedürfnisse an.

Vor allem Akademikereltern

Früher, als ihre eigenen Kinder klein waren, arbeitete Vogt als Tagesmutter. «Jahrelang war meine Stube ein Kinderspielplatz», sagt sie. Das wollte sie irgendwann nicht mehr. Doch die Arbeit mit Kindern gefiel ihr. Also tauschte sie, sobald ihre Kinder älter waren, ihre eigene gegen die Stube anderer Familien. Zum Beispiel diejenige von Katrin Sommer*. Sie und ihr Mann zogen vor einigen Jahren aufs Land. Doch im Dorf gibt es keine Kindertagesstätte, und sie fanden keine Tagesmutter, die sich um ihre drei Kinder gleichzeitig kümmern konnte. «Uns blieb nur die Option, eine Nanny einzustellen», sagt Sommer. Also recherchierte sie im Internet und stiess dort auf eine Nanny-Vermittlung in der nächstgelegenen Kleinstadt. So fanden sie Luisa Vogt. Seit fast drei Jahren betreut nun Vogt die Kinder der Familie Sommer, einen Tag pro Woche. Daneben hilft sie von Zeit zu Zeit bei weiteren Familien aus. Meistens ist sie vom Frühstück bis zum Abendessen bei den Familien zuhause und zuständig für alles, was dazwischen passiert. Bei einigen Familien fallen Aufgaben neben der Kinderbetreuung an. Als ein Kind etwa Verdauungsprobleme hatte, führte Vogt ein Protokoll über seine Ernährung. Bei einer Familie macht sie gelegentlich die Wäsche. «Einige Familien sagen: Mach während des Tages, worauf du Lust hast. Andere haben genaue Vorstellungen, wie der Tagesablauf der Kinder zu sein hat.»

 

Die Familien schätzten vor allem ihre Anpassungsfähigkeit, sagt Vogt. Mal dauert eine Sitzung abends länger als geplant. Mal steht ein Elternteil auf dem Nachhauseweg im Stau. Dann bleibt sie so lange, bis einer von beiden nach Hause kommt. Und wenn Katrin Sommer etwa morgens früher aus dem Haus muss, sitzt auch Vogt schon früher am Frühstückstisch. «Ich richte mich nach den individuellen Bedürfnissen der Familie», sagt sie.

Dieser «Luxus» kostet. Fast vierhundert Franken pro Tag bezahlt Familie Sommer für das sorgenfreie Rundumpaket. Das können sich nur wenige leisten. «Würde ich als Verkäuferin arbeiten, wäre es wohl rentabler, selbst zuhause zu bleiben», sagt Sommer. Ab drei Kindern hätten sich die Kosten im Vergleich zur Kitabetreuung für sie selbst aber gelohnt. Laut einer Untersuchung der pädagogischen Hochschule Bern hat die Mehrheit der Eltern, die eine Nanny engagieren, einen Hochschulabschluss.

Vielleicht auch deswegen behagt Sommer die Bezeichnung «Nanny» nicht richtig. «Das klingt so nach Grossbritannien und als sähen wir uns als etwas Besseres», sagt sie. Gegenüber ihrem Umfeld spricht sie lieber von einer Tagesmutter, die zu ihr nach Hause kommt. Dabei ist der Unterschied bedeutend. Als Tagesmutter war für Vogt klar: Sie arbeitet bei sich zuhause und dort gelten ihre Regeln. Als Nanny ist das anders. Auch wenn sie selbst mal nicht mit den Gepflogenheiten in den Familien einverstanden ist: Vogt mischt sich nicht in das Familienleben und die Erziehung ihrer Arbeitgeber*innen ein. Manchmal bedeutet das aber, dass sie mehr Stress aushalten muss. Eine Familie etwa habe in einem Haus mit vielen Treppen gewohnt und keine davon war für Kleinkinder abgesichert. «Da konnte ich nicht ruhig bleiben und war den ganzen Tag angespannt.»

Manchmal gehen die Wünsche der Eltern zu weit. Zum Beispiel, als eine Familie von Vogt verlangte, mit den Kindern für die Schule zu lernen. Akademikereltern würden von ihren Kindern oft schulische Höchstleistungen erwarten, sagt Vogt. Das mache sie nicht mit: «Abfragen ist ok – aber ich bin doch keine Nachhilfelehrerin.» Eine Studie im Auftrag der Stadt Zürich zeigte: Die Ansprüche an Nannys sind sehr verschieden. Einige Familien engagieren sie als Ferienbegleitung oder als Animateur*innen. Andere brauchen «Notfall-Nannys», die kurzfristig einspringen können. Dritte wünschen sich eine Nanny mit Fremdsprachenkenntnissen, um den Kindern eine weitere Sprache mit auf den Weg zu geben.

Schlecht geschützt

Gerade Familien, deren eigene Muttersprache nicht Deutsch ist, engagieren gerne Nannys, die ihre Sprache sprechen. Mitunter Sans-Papiers, wie Bea Schwager von der Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich berichtet. Diese sind besonders schlecht vor Ausbeutung geschützt. Von allen Jobs im Bereich Hausarbeit, die Sans-Papiers in der Schweiz machen, gehört Kinderbetreuung zu den am schlechtesten bezahlten: Nur 11 Franken erhielten sie im Jahr 2004 durchschnittlich, wie eine Studie der Sans-Papiers-Anlaufstelle Basel herausfand. Oft haben diese Frauen in ihrem Herkunftsland eigene Kinder, die sie durch die Betreuung fremder Kinder finanziell unterstützen. Doch auch Menschen mit Aufenthaltsrecht sind bei der Arbeit im Privathaushalt Risiken ausgesetzt, denn hier kommt das Arbeitsrecht nicht zur Anwendung. Lediglich der auf Bundesebene geregelte Mindestlohn muss eingehalten werden, nicht aber weitere Bestimmungen wie Pausen, Arbeitszeit oder Ferien. Diese werden auf kantonaler Ebene zwar festgelegt, können aber durch einen Arbeitsvertrag unterboten und so ausgehebelt werden. Am anfälligsten für Ausbeutung ist das Modell der «Live-in-Nanny» oder der klassischen Au-pair, die bei der Familie wohnen und rund um die Uhr auf Abruf sind. Viele bieten ihre Dienste privat über Onlineplattformen wie etwa care.ch an und handeln die Bedingungen mit den Familien individuell aus.

Vogts Situation dürfte eher die Ausnahme sein: Sie ist bei der hauseigenen Nanny-Vermittlung einer lokalen Kindertagesstätte angestellt und dort sozialund unfallversichert. Der Lohn wird monatlich auf ihr Konto überwiesen, selbst dann, wenn die Familien zu spät bezahlen. Zwischen 24 und 30 Franken pro Stunde – je nachdem, wie viele Kinder auf einmal sie betreut. Die Familien bezahlen zusätzlich für die Vermittlung und die Administration, die von der Kindertagesstätte übernommen werden. Die meisten Kinderbetreuerinnen in Privathaushalten sind von den Familien direkt angestellt. Unter anderem wegen dieser oft informellen Arbeitsverhältnisse ist über die Situation von Nannys in der Schweiz wenig bekannt. Es gibt nur eine Handvoll wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema. Auch die Gewerkschaften tappen weitgehend im Dunkeln, denn Nannys sind schlecht vernetzt. Die meisten von ihnen sind Einzelkämpferinnen.

Die Arbeit im Privathaushalt, so die Studie der Stadt Zürich, führe zu «entgrenzten Arbeitsverhältnissen» – die Trennung zwischen Privatem und Beruflichem ist schwer zu ziehen. Das macht auch die Vermittlung manchmal schwierig, wie eine Angestellte von Vogts Nanny-Vermittlung sagt. Familien hätten etwa Bedenken, eine Nanny aus demselben Dorf einzustellen – der Einblick ins Familienleben sei zu privat und die Gefahr zu gross, dass sich etwas herumsprechen könnte. Dabei gelte bei ihnen die Schweigepflicht: Wenn Luisa Vogt morgens die imaginäre Linie vor ihrem Arbeitsplatz übertritt, lässt sie ihr eigenes Privatleben zurück und fügt sich in das Privatleben ihrer Arbeitgeber*innen ein.


«Mit schwierigen Situationen konfrontiert»

Gewerkschaftssekretärin Martina Flühmann vom VPOD erreicht Nannys nur vereinzelt.

Wer sind die Menschen, die typischerweise als Nannys arbeiten?

Was fast alle verbindet: Es sind Frauen. Ansonsten sind die Geschichten und Lebenssituationen sehr verschieden. Sie sind jung, älter, Schweizerinnen, Migrantinnen oder Sans-Papiers. Einige verfügen über sehr spezialisierte Ausbildungen in der Kinderbetreuung, andere wiederum über keine berufsbezogene Qualifikation.

Mit welchen Problemen wenden sich Nannys an Sie?

Die Probleme sind vielfältig wie: In welchem Umfang dürfen Überstunden angeordnet werden und wie werden diese abgegolten? Wie werden kurzfristige Absagen angerechnet? Oder wie grenzt man den Arbeitsbereich ein? Es gibt selten einen Stellenbeschrieb. Das kann dazu führen, dass Nannys neben der Kinderbetreuung auch viele Hausarbeiten übernehmen. Auch die berufliche Vorsorge ist oft Thema. Viele Nannys arbeiten tiefprozentig in unterschiedlichen Privathaushalten und die einzelnen Auftraggeber*innen sind je nach Höhe des Lohns nicht beitragspflichtig. Die Gefahr der Altersarmut ist so gross.

Wie können sich Nannys gegen Ausbeutung wehren?

Grundsätzlich können sie sich arbeitsrechtlich als auch kollektiv wehren. Manchmal ist die Hemmschwelle hoch, da die Arbeitsverhältnisse oft auch sehr persönlich sind. In einigen Fällen hängt zudem die Aufenthaltsbewilligung vom Arbeitsverhältnis ab und bei den «Live-in-Nannys» sogar das Dach über dem Kopf. Da sie alle allein arbeiten, fühlen sie sich auch in schwierigen Situationen allein.

Nannys sind selten gewerkschaftlich organisiert. Warum?

Es ist in diesem Beruf besonders schwierig, weil die Arbeiterinnen stark vereinzelt sind. Sie haben keine Kolleginnen vor Ort, mit denen sie sich austauschen könnten. Hinzu kommen Arbeitszeiten, die oft bis in den Abend hinein gehen und zusätzliche unbezahlte Care-Arbeiten zuhause. Da bleibt wenig Zeit für gewerkschaftliche Vernetzung. Es ist aber gerade der Austausch, der die gemeinsamen Probleme und Forderungen zutage fördert.