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Illustration: Rahel Eisenring

All Inclusive
Können die das?

Kurz nachdem der Tessiner Ignazio Cassis in den Bundesrat gewählt worden war, schrieb der Dachverband der Behinderten-Selbsthilfeorganisationen Agile.ch in einer Medienmitteilung:
«Die Zeit ist überreif für eine Bundesrätin, einen Bundesrat mit Behinderung!» Was im ersten Moment merkwürdig klingt, ist bei näherer Betrachtung nicht so abwegig: Schliesslich leben in der Schweiz 1,6 Millionen Menschen mit Behinderung, während der Kanton Tessin nur knapp 350 000 Einwohner zählt. Der Anspruch des Tessins auf einen Bun- desratssitz schien unbestritten, bei der Vertretung von Menschen mit Behinderung in der Politik sieht es jedoch etwas anders aus.

Im nationalen Parlament sitzt momentan nur ein einziger Politiker mit einer – sichtbaren – Behinderung: der Thurgauer CVP-Nationalrat Christian Lohr. Als Lohr 2003 zum ersten Mal kandidierte, schrieb die NZZ ausführlich darüber, dass sich niemand getraue, den behinder- ten Kandidaten zu kritisieren: «Ein ‹netter Kerl› zwar, sicher, sehr sympathisch und zugänglich, aber leider fehle ihm die Erfahrung, das politische Profil. Offiziell und mit Namen will hingegen niemand am Kandidaten Lohr rütteln: ‹Zu heikel, Sie verstehen›.» Man durfte vor lauter politischer Korrektheit «gar nichts sagen», aber die Kritik stand prominent in der NZZ. Anonym, versteht sich.

2011 wurde Lohr schliesslich in den Nationalrat gewählt und 2015 wiederge- wählt. Als er sich 2012 im Parlament erfolgreich gegen radikale Sparmassnahmen bei der Invalidenversicherung aussprach, kommentierte die damalige NZZ- (und heutige Weltwoche-) Journalistin Katharina Fontana: «Man kann davon ausgehen, dass nicht alle CVP- Nationalräte aus Überzeugung für Lohrs Anträge gestimmt haben, sondern ‹weil man nicht anders konnte›, wie es ein Parlamentarier formuliert. Es sei rein emotional entschieden worden, heisst es, man habe dem behinderten Kollegen nicht in den Rücken fallen wollen. Lohr selber führt seinen Erfolg vor allem auf seine Glaubwürdigkeit zurück.»

Da denkt der Behinderte doch tatsächlich, seine Argumentation sei glaubwürdig. Und überhaupt, warum müssen wir uns jetzt mit behinderten Politikern auseinandersetzen? Können die Behinderten nicht einfach wie früher in geschützten Werkstätten Körbe flechten oder mundgemalte Postkarten produzieren?

Die emeritierte Rechtsprofessorin und liberale Alt-Nationalrätin Suzette Sandoz schrieb 2011 unter dem Titel «Die An- passung an Bedürfnisse von Behinderten hat Grenzen» in der NZZ am Sonntag: «Der Presse ist zu entnehmen, dass im Tessin ein Blinder in den Regierungsrat möchte. (...) Ist das vernünftig? Meine Antwort ist ein entschiedenes Nein. (...) Mir bereiten solche Kandidaturen grosses Unbehagen. Wird damit nicht, aus rein taktischen Gründen, das Mitleid der Wähler ausgenützt? Ist das wirklich Nichtdiskriminierung?»

Sandoz führte ins Feld, dass «ein blinder Exekutivpolitiker» – sie nennt den Kandidaten im ganzen Text konsequent nicht beim Namen – auf Unterstützung angewiesen wäre. Was ja bei nichtbehinderten Politikern ganz anders ist: Die schreiben selbstverständlich jede E-Mail oder Rede selbst. «Der Blinde» heisst übrigens Manuele Bertoli, ist Jurist und wurde 2011 in den Tessiner Regierungsrat gewählt. Und 2015 in seinem Amt bestätigt.

Sollte also dereinst eine Kandidatin, ein Kandidat mit einer Behinderung für den Bundesrat kandieren, wird die NZZ vermutlich einmal mehr darüber schreiben, dass man den Kandidierenden ja gar nicht kritisieren dürfe – und dann genau das ausführlich tun. Und der betreffende Politiker, die betreffende Politikerin wird nach seiner oder ihrer Wahl einmal mehr beweisen: Yes, he or she can.  

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 413 des Surprise Strassenmagazins.

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