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Foto: Klaus Petrus

Verkäufer*innenporträt
«Nicht schon wieder, dachte ich»

Negussie Weldai, 63, hat schon an vielen Orten gelebt, seit zwölf Jahren lebt er in der Schweiz. Er arbeitet im Berner Regionalbüro von Surprise und verkauft das Surprise-Magazin am Bahnhof in Bern.

«Ich bin in Asmara, der Hauptstadt Eritreas, aufgewachsen. Damals gehörte das Land noch zu Äthiopien. Von 1890 bis zum Zweiten Weltkrieg war es eine italienische Kolonie, zuvor war es 300 Jahre lang Teil des Osmanischen Reiches gewesen. Eritrea hat eine bewegte Geschichte hinter sich – und ich auch.

Als junger Mann fing ich an zu fotografieren und konnte damit meinen Lebensunterhalt finanzieren. Ich hatte ein Fotostudio und war spezialisiert auf Pass- und Porträtbilder. Neben der Arbeit war ich in der Befreiungsbewegung aktiv, die für die Unabhängigkeit Eritreas kämpfte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war zwar ein schöner Vertrag mit Gesetzen für möglichst viel Autonomie in der Provinz Eritrea verfasst worden, aber daran hielt sich Äthiopien nicht lange. Der Unabhängigkeitskampf dauerte mehr als dreissig Jahre und endete erst mit der Staatser Staats-

Doch das erlebte ich nicht mehr mit. Innerhalb der Befreiungsbewegung bildeten sich verschiedene rivalisierende Gruppen, und eines Tages wurde ich von meiner eigenen Gruppe beschuldigt, ich gehörte der anderen Gruppe an. Ich wurde ins Gefängnis gesteckt. Als ich nach einigen Monaten freikam, packte ich meine Sachen und setzte mich ins Ausland ab.

In Khartum, der Hauptstadt des Sudan, blieb ich vier Jahre und lebte vorwiegend vom Fotografieren. Dann machte ich mich auf, um einen freieren Ort zum Leben zu suchen. Als Christ hatte ich allmählich genug von den strengen muslimischen Regeln und Kontrollen, zum Teil auch Schikanen. Nach kurzen Stationen in Libyen und Syrien wurde ich in Beirut im Libanon fündig. Dort konnte ich am Abend auch einmal an die Promenade, Kollegen treffen und entspannt ein Bier trinken.

Ich wohnte fast neun Jahre in Beirut, beging dann aber einen dummen Fehler. Ich hatte es verpasst, meine Aufenthaltsbewilligung zu erneuern. So wurde ich Ende 2004 verhaftet und ausgewiesen. Nach Eritrea! Dort blieb ich nicht lange. Obwohl mehr als fünfzehn Jahre vergangen waren, befürchtete ich, wieder im Gefängnis zu landen – und ich kam ja gerade aus dem Gefängnis.

Zu jenem Zeitpunkt war es für mich am einfachsten, mein Glück noch einmal in Khartum zu versuchen. Dieses Mal meinte es das Schicksal gut mit mir, denn ich lernte dort im Sommer 2005 meine aus Äthiopien stammende Frau Merima kennen. Um zusammen leben zu können, heirateten wir sehr bald und führten zusammen und erfolgreich ein Fotostudio.

Leider wurde uns der Erfolg zum Verhängnis. Unsere Konkurrenz war neidisch und machte vor allem mir das Leben schwer. Über einen Ausländer, einen Christen, verheiratet mit einer Muslimin, kann man irgendwelche Unwahrheiten verbreiten und schon riskiert er, verhaftet zu werden. Nicht schon wieder, dachte ich.

Weil mein Bruder bereits in Genf lebte, hatten wir die Idee, dass ich mit einem Visum über Italien in die Schweiz reise, einen Asylantrag stelle und Merima im Familiennachzug nachkommen kann. Für Visa und Flüge für zwei reichte unser Geld nicht. Doch unser Plan ging nicht auf. Bei mir lief vieles schief. Die Schweizer Behörden glaubten mir erst nicht, dass ich Eritreer bin, es folgten Rekurse, Dokumente gingen verloren. So kam es, dass Merima und ich uns erst im Oktober 2015 im Asylempfangszentrum Vallorbe wiedersahen. Nach fünf Jahren und vier Monaten!

Merima ist jetzt seit sieben Jahren in der Schweiz, ich seit mehr als zwölf Jahren. So lange verkaufe ich auch schon Surprise. Und seit sechs Jahren arbeite ich im Surprise-Regionalbüro Bern, wo ich vor allem für die Ausgabe der Hefte zuständig bin. Mit dieser Anstellung ging mein grosser Wunsch in Erfüllung, meinen Lebensunterhalt wieder selbst und ohne fremde Hilfe verdienen zu können. So wie ich es in Asmara, Khartum und Beirut auch immer tat.»