Letzten Sonntag hätte meine Nachbarin mich fast in den Wahnsinn getrieben.
Ich war gerade dabei, in der Einfahrt mein Auto zu putzen, als sie vorbeikam und befand, sie müsse mir Gesellschaft leisten. Sie erzählt immer die absurdesten Lügengeschichten. Es wäre vielleicht ganz amüsant, würden die Geschichten nicht die Abgründe ihrer Weltanschauung darlegen. Das ist vielleicht ein wenig übertrieben, denn es ist nicht so, dass sie etwa den Ku-Klux-Klan unterstützt oder gern Grosswild in der Savanne schiesst. Nein, nein. Sie erzählt mir einfach zum Spass Geschichten, die mir imponieren sollen, was jedoch nicht gelingt, weil ich am anderen Pol des Werteatlas sitze.
All den prahlerischen Überfluss, den sie immer heraufbeschwört, finde ich eher unnötig bis verwerflich. Während sie sich letzte Woche noch für all die Rosenblätter im Treppenhaus entschuldigte, mit denen ihr Verehrer einen Pfad in ihre Wohnung gelegt habe, um ihr endlich einen Antrag zu machen (weder Verehrer noch Rosenblätter waren je gesichtet worden), erzählt sie mir dieses Mal, sie habe sich nun endlich selbständig gemacht und es laufe so gut, dass sie sich eine Rolex gekauft habe.
Als ich von meiner emsigen Tätigkeit aufschaue, um einen Blick auf ihr Handgelenk zu erhaschen, erzählt sie mir,
die Rolex trage sie jedoch ausschliesslich bei der Arbeit und bei Geschäftsessen, das sei gut fürs Geschäft. Die Kunden und Kundinnen, alles Männer und Frauen mit Wertschätzung für das Gute und Schöne, würden ihr so zu Füssen liegen und dabei noch ihren edlen und teuren Perserteppich bewundern, den ihr ihr pakistanischer Liebhaber eigenhändig gewoben habe. Obwohl sie ihn geschenkt bekommen habe, wisse sie, dass der Teppich sehr teuer gewesen sei, jeder wüsste das. Und dann ist da noch das Tuch, mit dem sie die Uhr putze: reinstes Kaschmir mit Fäden aus Gold, bei denen man aufpassen müsse, dass sie die Uhr nicht zerkratzten.
Sie hat eine schöne Stimme und plappert mit ausschweifender Gestik, ihre Lügen illustrierend, vor sich hin. Wenn sie nicht ständig so einen Schmarrn erzählen würde und ich nicht das Gefühl hätte, dass sie mich für doof genug hält, ihr zu glauben, würde ich es wohl geniessen, ihren verrückten Anekdoten zu lauschen. Wortlos die Felgen polierend, nicke ich, und sie geht nach oben in ihre Wohnung.
Als ich gerade fast fertig bin und nur noch in eifrigem Perfektionismus die letzten, ausscherenden Rhododendronblätter des Busches stutze und die Blüten mit Büffelmozzarella betupfe, höre ich, wie sie lauthals der Nachbarin ihres Nebenbalkons erzählt, die Trüffelschweine, in die sie investiert habe, hätten den grössten Trüffel der Region gefunden, und vom Preisgeld, das sie dafür an der Olma-Messe gewonnen habe, habe sie sich eine Rolex gekauft, die sie nun, da die Nachbarin sie sehen und bewundern möchte, gerade nicht zeigen könne. Sie sei in der Reinigung: «D’Olma isch wiedr mol ä uhuäre Chäferfäscht gsy, waisch!»
Ich bin fertig und packe zum Schluss die Plane wieder über den Teich, damit die Koifische nicht frieren, es ist schliesslich noch Winter. Ich finde die Uhr in meinem mit Elfenbein umfassten Handschuhfach und rufe nach oben: «Reinigung?! Was erzählst du denn für Lügengeschichten – ich habe sie in meinem Auto gefunden, wie einen Trüffel, die Uhr!»
Erschienen in Surprise 418/18