Heiko & Lilian - eine Liebesgeschichte
Und plötzlich keimt da was
Lilian Senn und Heiko Schmitz glaubten beide nicht, dass sie sich nochmals auf jemanden einlassen könnten. Doch seit Kurzem sind sie ein Paar. Eines ohne Dach über dem Kopf.
TEXT: GEORG GINDELY
Lilian war Heiko zuerst in der Gassenküche Basel aufgefallen. Das war Mitte 2015. Er beobachtete sie und dachte: Das ist eine Gute.
«Das hast du mir gar nie erzählt», sagt Lilian und lächelt Heiko an. Er drückt ihre Hand.
Die beiden sind seit zwei Monaten ein Paar. Wann genau Lilian sich in Heiko verliebt hat, kann sie nicht sagen. Es ist schleichend passiert, über Wochen und Monate hinweg. Die Liebe wuchs an verschiedenen Orten: An einem Tisch vor dem türkischen Imbiss beim Wettsteinplatz. Im kleinen Park beim Museum Tinguely. An den vielen Surprise-Stadtführungen durch Basel. Und in einem Haus in Münchenstein, in dem Lilian Heiko über Wochen hinweg gepflegt und über einen Hindernisparcours gehetzt hat.
Als Heiko Lilian in der Gassenküche beobachtet, imponiert ihm ihr Auftreten. Sie kann gut reden, sie markiert Präsenz. Sie wäre eine gute Stadtführerin, denkt Heiko, der selber Stadtführer ist. Er weiss, dass Surprise Frauen-Rundgänge anbieten will und auf der Suche nach passenden Kandidatinnen ist. Er spricht Lilian an und fragt sie, ob sie Interesse habe.
Danach sieht er Lilian nur noch selten. Ein Jahr später fällt Heiko unglücklich und landet auf dem Rücken. Ein Wirbel verschiebt sich. Die Folge: eine teilweise Querschnittlähmung.
Es ist nicht sein erster Unfall. Heiko Schmitz, 52 Jahre alt, aus Köln, früher Inhaber einer Firma für Fertighäuser, seit zwölf Jahren in der Schweiz, arbeitete als Bauführer, bis zu 14 Stunden am Tag, vier Jahre lang ohne Ferien. Dann passierte Unfall Nummer eins. Die Bänder in der linken Schulter rissen. Die Unfallversicherung zahlte nicht.
Die Schäden seien schon vorher da gewesen, begründete sie den Entscheid. Um die Behandlungskosten zu bezahlen, verschuldete sich Heiko. Kurze Zeit später machte seine Frau per SMS Schluss mit ihm, nach 22 Jahren Ehe. Er verlor seinen Halt, seine Stelle, seine Wohnung. Er schlief unter der Brücke, 36 Monate lang. In der Gassenküche fand er Halt, Menschen, die ihm zuhörten, eine Beschäftigung. Und er fand Lilian.
Heiko liegt mit einem gelähmten Bein im Spital, als ihn Sybille Roter anruft, seine Vorgesetzte bei Surprise. Eine Frau habe sich bei ihr gemeldet. Sie wolle Stadtführerin werden. Sie sage, sie kenne ihn.

Seit 18 Jahren ohne eigene Wohnung
Lilian hat nach Heikos Anfrage ein Jahr lang überlegt, ob sie diesen Schritt wagen will. Wer Stadtführerin werden möchte, muss vor Menschen stehen können, muss sich intensiv mit seiner Biografie auseinandersetzen, muss viel von sich preisgeben. Lilian Senn, 61, ist ohne eigene Wohnung, seit ihre Ehe auseinanderbrach. Das war im Jahr 2000. Ihr Mann war weg, die Söhne, das Haus, bald darauf auch die Arbeit. Sie schlug sich durch, übernachtete bei Bekannten, surfte von Sofa zu Sofa. Als sie 2013 nach Basel kam, hatte sie zwei Koffer und einen Rucksack dabei. Darin hatte alles Platz, was ihr gehörte. Sie fand Unterschlupf bei einer Pastorin, begann, an Jesus zu glauben, «den Sohn des lebendigen Gottes», wie sie ihn nennt, und begann, mit ihm zu sprechen, ihn um Rat zu fragen und ihm ihre Geschichte zu erzählen. Kurze Zeit später begann sie im Haus der Pastorin in Münchenstein, das sich «Schule des Lebens Beth Nitzachon» nennt und als Begegnungs- und Auffangzentrum für Menschen in Not dient, unentgeltlich als Beraterin und Pflegerin zu arbeiten. Das Zimmer, in dem sie die Beratungen abhält, ist oft auch Lilians Schlafort.
Zehn Wochen nach dem Sturz auf den Rücken kann Heiko wieder gehen. Mit Mühe und mit Stock zwar, aber das bremst ihn nicht: Er beginnt gleich wieder mit den Stadtführungen. Um sich wenigstens ein bisschen zu schonen, absolviert er jeweils die kürzeste Tour mit vielen Sitzmöglichkeiten, und Lilian begleitet ihn. Er wird ihr «Tourenpapi», wie sie ihn nennt, ihr Lehrmeister auf dem Weg zur Stadtführerin. Sie wählt ihn, weil er sich Zeit nimmt, ruhig und zurückhaltend ist und doch frei und offen aus seinem Leben spricht. Zum Beispiel von dem Moment, als er 2014 erfuhr, dass seine Tochter bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Und von dem, was danach passierte: Wie er sich komplett gehen liess, wie er trank, 25 bis 30 Dosen Bier pro Tag. So viel, dass er in der grössten Kälte aus dem Schlafsack rollte und ein Teil seiner Nase abfror. Heiko erzählt auch davon, wie er sich wieder fing und Stadtführer wurde. Wie er immer wieder motiviert werden und sich durchbeissen musste, um dabeizubleiben.
Nach den Touren sitzen Lilian und Heiko zusammen, meist draussen an einem Tisch vor dem türkischen Imbiss Ubek. Dort kann Heiko rauchen, und dort können die beiden miteinander reden. Über die Touren, über ihre Erlebnisse, über ihre Vergangenheit, über sich. Zum Teil sitzen die beiden so lange da, dass sie gar nicht merken, dass es Nacht und kalt geworden ist. Lilian hat neben dem «Sohn des lebendigen Gottes» einen weiteren Ansprechpartner gefunden und merkt, dass sie Heiko lieb bekommt. Das ist ungewohnt und neu. Lilian hat die Menschen um sich herum immer abgewertet. Es war ihre Art, Distanz zu halten, nichts mehr an sich herankommen zu lassen.
Es ist nicht leicht, Vertrauen in andere zu haben, wenn man erlebt hat, was Lilian erlebt hat. Ihre Kindheit war geprägt von Gewalt. Der Vater nahm sich das Leben, als Lilian ein Jahr alt war. Der Grossvater missbrauchte sie, da war sie dreieinhalb. Die Mutter schützte ihr Kind nicht, im Gegenteil. Nähe, Zärtlichkeit und Sex, das war für Lilian aufgrund ihrer Erfahrungen nichts Erstrebenswertes. Nicht, dass sie nicht auf der Suche nach Liebe gewesen wäre. Mit ihrem Mann hatte sie diese zeitweise gefunden und dann wieder verloren. «Ich bin schuld, dass es mit uns nicht geklappt hat», sagt Lilian. Weil sie sich zurückzog, in die Arbeit stürzte, ihm das Vertrauen entzog. Lilian hätte nicht daran geglaubt, dass es nochmals klappen würde mit der Liebe. Heiko auch nicht. «Ich dachte, ich sei fertig mit den Frauen», sagt er.

Sie stellte ihm Hindernisse in den Weg
Heiko lebt in einem Zimmer in einem Obdachlosenheim in Lörrach, nicht weit entfernt von der Landesgrenze. Im November 2017 taucht er plötzlich nicht mehr auf in Basel, er sei gesundheitlich nicht gut beieinander, heisst es. Lilian macht sich Sorgen. Kurz nach Weihnachten fährt sie nach Lörrach, ohne Heikos genaue Adresse zu kennen, fragt sich durch, sucht und findet ihn. Er liegt in seinem Zimmer und kann fast nicht aufstehen. Die Lähmung im Bein ist immer noch da, dazu gekommen ist eine grossflächige Infektion der Haut, die an vielen Stellen offen ist, auch an den Füssen. So kann ich dich nicht liegenlassen, sagt Lilian, packt Heiko ein und bringt ihn ins Haus nach Münchenstein. Sie beschliesst, ihn gesund zu pflegen.
Lilian hatte vor ihrer Scheidung eine gradlinige Arbeitskarriere. Sie machte eine Lehre als Floristin, wechselte ins Kaufmännische, absolvierte Weiterbildungen, wurde Personalchefin. Ihr Hobby war das Turnen. Sie besuchte mehrere Kurse in Magglingen, um als Jugend&Sport-Leiterin Turnstunden geben zu können. Das kommt Heiko nun zugute. Lilian richtet im Keller des Hauses in Münchenstein einen Parcours aus Petflaschen und Harrassen ein, den Heiko absolvieren muss, immer und immer wieder. Im einen Bein hat er immer noch wenig bis kein Gefühl. Lilian lässt ihn Standfestigkeit üben, sagt ihm, er soll auf das schwache Bein stehen, damit die Muskeln erhalten bleiben und wieder aufgebaut werden können. Er muss draussen im Wald bergab laufen, weil ihm das am Schwersten fällt. Sie lässt ihn Beckenbodentraining machen und Liegestützen. Sie massiert sein Bein, seinen Rücken. Und sie pflegt seine entzündete Haut, die grossen Wunden. Die Unterhose muss er immer anbehalten. «Wir waren ja kein Paar», sagt Lilian.
Anfang 2018 führt Lilian ihren ersten sozialen Stadtrundgang durch, als erste Frau in der Schweiz. Sie ist nervös, aber es geht alles gut, sie erhält viel Lob. Der einzige Wermutstropfen ist, dass ihr Tourenpapi Heiko nicht dabei sein kann. Am Abend erzählt sie ihm von der Premiere, er freut sich für sie. Dann muss er wieder um Petflaschen und Harassen herumbalancieren.
Heiko unterbricht. Er will nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht. Lilian sei nicht sehr streng gewesen, «sie war kein Feldwebel», sagt er, sondern habe sehr viel Einfühlungsvermögen gezeigt.
Die beiden sprechen viel zusammen im Haus. Sie öffnen sich. Sie fassen Vertrauen. Das klingt jetzt leicht. Aber das ist es nicht. Es braucht viel Arbeit und Zeit auf beiden Seiten, bis die Bereitschaft da ist, sich zu öffnen.

Zwei Monate Bedenkzeit bis zum «Ja, ich will»
Lilian spürt, dass nicht nur das Vertrauen wächst, sondern auch die Liebe. Mitte Februar fasst sie sich ein Herz und sagt Heiko auf einer gemeinsamen Autofahrt, dass sie ihn liebt. Heiko schluckt. Er freut sich. Er hat Angst. Er braucht Bedenkzeit. Lilian gibt sie ihm und pflegt ihn weiter.
Am 8. April, fast zwei Monate, nachdem Lilian ihn gefragt hat, fast drei Jahre, nachdem sie ihm zum ersten Mal in der Gassenküche aufgefallen ist, sagt Heiko: Ja, ich will. Sie küssen sich. Fast wie bei einer Hochzeit.
Seither laufen sie Hand in Hand. Sie sind zärtlich zueinander und liebevoll. Sie lachen miteinander, sie sprechen miteinander, und manchmal weinen sie miteinander. Sie geniessen ihre Liebe, auch wenn das nicht einfach ist für ein Paar, das auf der Gasse lebt. Intimität ist nur im Haus in Münchenstein möglich. Manchmal gehen die beiden in den Park beim Museum Tinguely, sitzen auf eine Bank, spazieren Hand in Hand unter den Bäumen. Wenn der Tisch vor dem Ubek ihr Ess- und Wohnzimmer ist, so ist der Solitude-Park ihr Garten.
Am liebsten würden Lilian und Heiko zusammenziehen, in eine eigene Wohnung, ein Zimmer würde reichen, zwei wären besser. Die Lage für Lilian spitzt sich bereits Ende Juni zu: Sie verliert die Möglichkeit, in Münchenstein zu übernachten. Das Haus, in dem die beiden zusammengefunden haben, in dem der Hindernisparcours stand, ist verkauft worden und wechselt Ende Monat den Eigentümer. Lilian und Heiko müssen den einzigen Ort verlassen, an dem sie ungestört zusammensein konnten.
Die Suche nach einer eigenen Wohnung ist für Menschen wie sie fast aussichtslos. Beide hatten Schulden, beide wurden betrieben. Das sind keine Traummieter, gerade weil Wohnungen so gefragt sind in Basel und Umgebung. Dennoch sind Lilian und Heiko zuversichtlich. Lörrach wäre ein guter Ort zum Wohnen, finden sie.
Ende Jahr, so hofft Heiko, kann er beim Gehen auf den Stock verzichten. Viel früher, so hoffen beide, können sie zusammenziehen. In die eigenen vier Wände, wie ein richtiges Ehepaar.