Diese Welt der Ausgrenzung

Alle Mauern, Grenzen und Zäune, die in den letzten zwanzig Jahren errichtet wurden, sind zusammen so lang wie der Erdumfang. Sie dienen der Abschottung und Ausgrenzung. Der Grundstein dafür wird in unseren Köpfen gelegt.

21.03.2025TEXT UND FOTOS: Klaus Petrus

Foto: Klaus Petrus

Mauern und Grenzen: Für die einen ein Trost, denn sie wollen Sicherheit, für die anderen ein Gräuel, denn sie wollen Freiheit. So einfach ist es natürlich nicht. Und doch haben sie immer beides an sich: Sie beschützen und wehren ab, sie frieden ein und sperren aus, sie verbinden und trennen, sie teilen auf in hier und dort, in privat und öffentlich, in Wir und die Anderen, in mein und dein, in «dieses ist erlaubt» und «jenes verboten», in «das ist normal» und «so was gehört sich nicht». Mauern und Grenzen – zumal politische, kulturelle, wirtschaftliche, soziale, sprachliche, religiöse oder kosmische – gehören ohne Zweifel zu den ältesten und mächtigsten Kulturtechniken des Menschen.

Man möchte meinen, liberale, offene Gesellschaften hätten Mauern überwunden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Wir leben mehr denn je in einer Welt aus Mauern, Zäunen, Stacheldraht, Barrieren und Palisaden. Zusammengenommen machen sie 41 000 Kilometer aus, das entspricht dem Erdumfang. Seit dem Berliner Mauerfall 1989, dem Ende des Kalten Krieges, wurden sechzig neue Mauern erbaut, davon haben die meisten nur einen Zweck: Eindringlinge und Feinde fernzuhalten.

Eine der wohl berüchtigtsten und auch konfliktträchtigsten Grenzen ist jene Mauer, die Israel vom Westjordanland trennt; sie wurde zwischen 2000 und 2005 errichtet und gilt der einen Seite als Sicherheitsbarriere, der anderen als Ausdruck von Unterdrückung. Die meisten Absperrungen jedoch wurden seit 2015 in europäischen Ländern errichtet, um Migrant*innen aufzuhalten: in Ungarn entlang der serbischen Grenze (160 km lang, Kostenpunkt 400 Mio. Euro), in Slowenien an der Grenze zu Kroatien (176 km, 320 Mio. Euro), in Polen und Litauen jeweils entlang der Grenze zu Belarus (186 km, 350 Mio. Euro bzw. 550 km, 150 Mio. Euro), in Griechenland und Bulgarien an der Grenze zur Türkei (75 km, 110 Mio Euro bzw. 260 km, 450 Mio. Euro), in Grossbritannien beim Tunneleingang in Calais (1,5 km, 5 Mio. Euro) und in Spanien entlang der beiden Exklaven Ceuta und Melilla (20 km, 55 Mio. Euro).

Beispiele wie diese vermitteln das Bild der «Festung Europa», einem «Bollwerk gegen Migration». Doch sind nicht alle Migrant*innen unerwünscht. Im Gegenteil, die meisten werden von EU-Ländern gezielt angeworben, etwa um den gestiegenen Bedarf an Arbeitskräften in Landwirtschaft, Bau, Industrie oder Gesundheitswesen zu decken. Für diese Zuwanderer*innen spielen Grenzen innerhalb der EU keine Rolle, zumal sich die Bestimmungen puncto Aufenthalt und Arbeitsbewilligung in den vergangenen Jahrzehnten gelockert haben.

In der Schweiz, einem Land mit einem Ausländer*innen-Anteil von 25 Prozent, kommen 75 Prozent der Zuwan­ derer*innen aus EU/EFTA-Staaten wie Italien, Portugal oder Deutschland. Die übrigen stammen aus europäischen Ländern, die nicht der EU angehören, oder aber aus Ländern ausserhalb Europas, den sogenannten Drittstaaten wie Türkei, Syrien oder Afghanistan. Darunter sind Flüchtlinge im engeren Sinne, also Menschen, die an Leib und Leben bedroht sind und Asyl beantragen. 2023 wurden in der Schweiz 26 667 Asylgesuche geprüft, 23 Prozent wurden angenommen. Das betrifft umgerechnet 5991 Personen auf neun ­ Millionen Einwohner*innen – ein Grös­ senverhältnis, das mit Ausnahme von Deutschland auch für andere europäische Länder gilt.

Am Ende wird die «Festung Europa» also für vergleichsweise wenige Menschen errichtet; sie galten früher als «Wirtschaftsflüchtlinge», heute werden sie als «Scheinasylant*innen» bezeichnet. Das Argument, es würden ungleich mehr sein, wären da nicht alle diese Mauern, ist schwer zu überprüfen. Sicher ist, dass es zum Wesen von Absperrungen gehört, umgangen, überklettert, untertunnelt oder durchlöchert zu werden. Und wo sie unüberwindbar scheinen, werden Migrationsrouten nicht gestoppt, sondern umgeleitet, die zentrale Mittelmeerroute etwa nach Osten oder die Balkanroute nach Westen. Kommt hinzu, dass sich die meisten Geflüchteten gar nicht erst auf den Weg nach Europa machen; sie bleiben im eigenen Land oder ziehen in benachbarte Regionen. Gemäss Statistik gehören acht von zehn Migrant*innen zu diesen Binnenflüchtlingen und 85 Prozent der Länder, in die sie migrieren, zählen zu sogenannten Entwicklungsländern. Trotzdem ist in Politik und Medien unentwegt von «Horden von Flüchtlingen» die Rede, die Europa «fluten», von einer «Völkerwanderung», einem «biblischen Exodus», einem «Angriff auf unsere Grenzen» gar, der mit einem «Verlust unserer Werte und Kultur» einhergeht – und im selben Atemzug eben davon, dass Mauern und Grenzen die Mittel und Wege seien, um all das zu verhindern.

Noch ein anderes Beispiel dafür, wie die offene Gesellschaft auch eine der Ausgrenzung ist. In diesem Fall verlaufen die Trennlinien zwischen den sozialen Klassen. «Soziale Klassen», das mag überholt klingen, nach Marxismus und nach Arbeiterkampf, und vielleicht wäre es passender, stattdessen von einem «sozialen Raum» zu reden, in dem sich Menschen als Teil der Gesellschaft aufhalten. In der Sache aber macht es keinen Unterschied, denn auch der soziale Raum ist, wenngleich durchlässiger als Klassen, eingeteilt in Oben und Unten oder in eine Mitte und einen Rand.

Das kulturelle Kapital trennt

Wer sich wo in diesem Raum befindet, hat viel mit ökonomischem Kapital zu tun, über das man verfügt – also mit Geld. Nicht selten wird diese Art der Positionierung und Abgrenzung gegenüber unten, also gegenüber Leuten, die weniger haben, prekär leben oder arm sind, mit Statussymbolen zur Schau gestellt. Es gibt jedoch noch anderes Kapital, das eine Person hat oder eben nicht – und das weniger augenfällig ist. Es hat mit Bildung im weitesten Sinne zu tun, wird vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu «kulturelles Kapital» genannt und kann typischerweise über Institutionen wie Schulen, Gymnasien oder Hochschulen angehäuft werden. Aber nicht nur: Kulturelles Kapital und vor allem die Voraussetzung, es zu erwerben, wird massgeblich durch Herkunft und Sozialisierung bestimmt. Hier, innerhalb der Familie oder dem näheren Umfeld, entscheidet sich, wer nebst schulischem Stoff zusätzliches Wissen vermittelt bekommt, Geschmack, Kunstsinn, Sprachen, gehobene Manieren und anderes mehr – Kapital also, das später einmal für die gesellschaftliche Position der betreffenden Person von entscheidender Bedeutung sein kann (und das sich, nebenher gesagt, in ökonomisches Kapital umsetzen lässt). Dabei sind klar jene im Vorteil, die aus einem Milieu stammen, das selber bereits über erhebliches kulturelles Kapital verfügt – also aus dem Bürgertum. Studien zufolge ist für Personen aus der sogenannten Unterschicht, aus sozial benachteiligten Familien oder mit Migrationshintergrund die Wahrscheinlichkeit um ein Vielfaches geringer, dass sie eine höhere Schule besuchen, als für solche aus sozial höheren Klassen.

Dieser Trennlinie zwischen Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Kapital wird in liberalen Gesellschaften das Credo der Chancengleichheit entgegengehalten – «Bildung für alle» ist Ausdruck dieser Überzeugung. Wissen, Fertigkeiten, Einkommen, Besitz oder die soziale Stellung sollen demnach nicht durch Herkunft oder Milieu bestimmt werden. Stattdessen gilt das Leistungsprinzip: Welche Position eine Person im sozialen Raum innehat, ist das Ergebnis der eigenen Arbeit. Allerdings hat diese Idee der Chancengleichheit ihre Kehrseite. Wenn sozialer Status das Produkt der Maxime «Wer will, der kann» ist, sind geringe Aufstiegsmöglichkeiten, Prekariat, Armut oder Arbeitslosigkeit nicht länger ein geteiltes, kollektives Klassenschicksal, sondern gelten als Resultat persönlichen Versagens. Wer sich nach dieser Auffassung im sozialen Raum oben befindet oder mit beachtlichem Wohlstand in der Mitte der Gesellschaft angelangt ist, verdankt dies seinen eigenen Verdiensten; und wer unten ist oder am Rand, ist selber schuld.

So unterschiedlich Mauern in der Welt und Grenzlinien zwischen sozialen Klassen auch sein mögen – hier wie dort geht es um eine strikte Trennung zwischen «Wir» und «den Anderen». Beim Beton oder Stacheldraht, der Menschen voneinander trennt, ist das offensichtlich; es gibt keinen Raum, den sie teilen, wo sie einander begegnen könnten. Subtiler ist das im Falle unterschiedlicher Klassen. Zwar steht am Eingang eines Museums nicht geschrieben «Nur für besonders Kunstbeflissene». Doch ist belegt, dass Menschen mit wenig kulturellem Kapital derlei Orte weit weniger oft aufsuchen (auch wenn der Eintritt frei ist). Auch Wohnviertel, Restaurants, Clubs, Läden, Bahnhöfe, etc. sind Orte, wo gewisse Menschen näher beieinander sind als andere; sie stehen in einem sozialen Nachbarschaftsverhältnis, wenn man so will. Dieses Beziehungsgeflecht und die Trennlinien drumherum widerspiegeln die Position, welche diese Menschen im sozialen Raum innehaben: Die oben sind, gesellen sich zu ihresgleichen, und die unten sind, bleiben unter sich. Entsprechend suspekt sind «Aufsteiger», welche die eine Klasse verlassen und sich in eine andere eingelebt haben.

Dabei ist die Unterscheidung zwischen «Wir» und «Andere» letztlich eine in unserem Kopf. Wer dazugehört und wer nicht, verdankt sich vorgefassten Bildern, die wir von Menschen oder Personengruppen haben. Solche Schubladen oder Stereotypen sind selten neutral, sondern enthalten Wertungen. Sind diese negativ, wird Abgrenzung zu Ausgrenzung. Aus den «Anderen» werden jetzt «Fremde», «Kriminelle» oder «Schmarotzer», über die man sich erheben kann. Ob diese Zuschreibungen tatsächlich zutreffen oder ob es sich um Zerrbilder handelt, spielt dabei keine Rolle. Sie dienen vielmehr dazu, sich zu vergewissern, dass man zu den «Besseren» gehört und es geschafft hat. Deshalb brauchen Populist*innen für ihre identitären Überlegenheitsfantasien die angeblichen Horden von Migrant*innen, genauso wie die Reichen die Armen.

Abgrenzung durch Stereotype

Typischerweise scheren sich Vorurteile und Feindbilder nicht ums Individuelle oder Persönliche, es geht ihnen allein ums Klischee und die anonyme Masse. So verschwindet hinter diesen Schablonen zwingend der einzelne Mensch. Deswegen ist die Stereotypisierung immer auch ein Akt der Entmenschlichung. Es geht nie um Abdullah, sondern bestenfalls um ihn als «Flüchtling», nie um Lotti, sondern nur um sie als «Arme», und auch nie um Luca, sondern bloss um ihn als «Drogensüchtigen». Die Mauern in der Welt also sind Manifestationen der Mauern in unserem Kopf. Damit ist die Frage, ob eine wahrhaft offene, grenzenlose Gesellschaft möglich ist, letztlich auch eine danach, ob wir auf Stereotypen verzichten können.

Vieles spricht dafür, dass sie unentbehrlich sind, um sich in dieser Welt zurechtzufinden. Sie sind Ordnungsprinzipien, die helfen, Komplexes zu vereinfachen und Besonderes zu verallgemeinern. Diese Welt ist offenbar zu vielfältig, zu fliessend auch, um von uns unmittelbar erfasst zu werden. Wir brauchen das Differenzieren und Kategorisieren, auch wenn alles miteinander zusammenhängen mag. Obschon ein Grenzgänger, ist der Mensch, um die Welt zu durchwandern, auf Karten mit klaren Linien angewiesen.

Das mag erklären, weswegen in Zeiten der zunehmenden Komplexität sowie der damit einhergehenden Orientierungslosigkeit und Unsicherheit Stereotypen, Vorurteile und Feindbilder Hochkonjunktur haben – wie jetzt gerade. Heisst das, dass die Mauern in unseren Köpfen unverrückbar sind, dass sie weder durchbrochen noch abgebaut werden können? Keinesfalls. Die Bürgerrechts-, Frauenoder Schwulenbewegung sind Beispiele dafür, wie sich die Logik der Stereotypisierung untergraben lässt: Ihre Proteste stellen konsequent die Menschen in den Vordergrund und nicht eine anonyme Gruppe, als die sie diskriminiert werden. Was zählt, ist der einzelne Mensch, ob Schwarz, weiblich oder homosexuell. Diese sozialen Bewegungen lassen sich als fortwährende Bemühung auffassen, Mauern und Grenzen wenn nicht völlig aufzuheben, so doch auszuweiten – und zwar so, dass Menschen, die davon ausgeschlossen wurden, nun zumindest formal zur Gemeinschaft der Gleichen gehören.

Der Anspruch, im «Anderen» einen Menschen zu sehen und nichts ausserdem – diese radikale Menschlichkeit –, verlangt von uns, die Perspektive zu erweitern. Denken in Schubladen führt zu einer Verengung der Sichtweise, zu einer Verstümmelung unserer Vorstellungskraft. Je starrer das Bild vom Flüchtling oder Randständigen, umso weniger kann man sich überhaupt noch ausmalen, wie speziell und zugleich normal der Einzelne hinter diesem Stereotyp sein mag. Abdullah, Lotti und Luca aus den ewig selben Bildern in unseren Köpfen zu befreien bedeutet somit, sie anders wahrzunehmen und anders über sie zu erzählen: Lotti, die nicht bloss eine ältere Frau ist, von Armut betroffen, sondern auch eine, die Kartoffelsalat mag, die den Herrgott für einen «Plagöri» hält und sich im Wald gerne zwischen die Bäume stellt; Abdullah, der einmal als Kind auf einer Müllhalde eine Plastikkamera fand, den rasenden Reporter mimte und der am liebsten Spaghetti mag; oder Luca, der alles über Raben wusste, Eric Clapton bewunderte und an die ewige Liebe glaubte.

Natürlich reicht radikale Menschlichkeit nicht aus, um die Mauern der Ausgrenzung, ob in der Welt oder in unseren Köpfen, niederzureissen. Damit einhergehen müssen zwingend Forderungen nach migrationsund sozialpolitischen Massnahmen. Auch braucht es den Kampf um soziale Anerkennung in Form von Streiks, Barrikaden, Protesten und zivilem Ungehorsam. Und doch bleibt die beharrliche Kritik an Stereotypen, Vorurteilen und Feindbildern die Grundlage all dieser Arten des Aufbegehrens – nur schon, um ihnen ihre Macht zu nehmen, die sich so leicht instrumentieren lässt. Tatsächlich sind die Bilder in unseren Köpfen ein mächtiges Instrument in den Händen derer, die darauf setzen, dass wir sie nicht hinterfragen. Walter Lippmann, der sich während des Aufkommens des Nationalsozialismus in den 1920er-Jahren mit Stereotypen und Feindbildern auseinandersetzte, formulierte es so: «Wir haben uns über die Welt bereits eine Meinung gemacht, bevor wir sie sehen. Diese vorgefassten Urteile, diese Bilder in unseren Köpfen, beherrschen uns aufs stärkste. Wer sie beherrscht, beherrscht auch uns.»

Serie: Hinter Mauern

Was trägt sich hinter Mauern zu? Da, wo wir nur selten Einblick bekommen? Was verbergen Mauern, was wird vom Rest der Gesellschaft abgeschirmt? Und zu welchem Zweck? Wie lebt es sich hinter Mauern, und vor allem: wer? In unserer neuen Serie blicken wir hinter unterschiedliche Mauern – bauliche, aber auch soziale oder symbolische.