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Soziale Stadtrundgänge

Die Sozialen Stadtrundgänge haben ein turbulentes Jahr hinter sich: von Mitte März bis Mitte Juni und dann wieder ab Spätherbst konnten keine Touren stattfinden – in den restlichen Monaten nur mit begrenzter Besucher*innenzahl und einem umfassenden Schutzkonzept. Umso beeindruckender waren der Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung der Stadtführer*innen und Angebotsleiterinnen.

Die Stadtführer*innen 2020 in Zürich, Basel und Bern (v.l.n.r., Foto: Marc Bachmann, Lucia Hunziker, Ruben Hollinger).

Der Dokumentarfilm «Im Spiegel» portraitiert u.a. die Surprise-Stadtführerin Lilian Senn und thematisiert ihre Erfahrungen mit der Obdachlosigkeit (Foto: z.V.g.).

Kurz vor dem Lockdown konnte ein besonderes Ereignis zum Glück fast unbeschadet stattfinden: in verschiedenen Schweizer Städten fand die Schweizer Premiere des Dokumentarfilms «Im Spiegel» mit der Basler Stadtführerin Lilian Senn zum Thema Obdachlosigkeit statt.

Intensive Sozialbegleitung

Der Lockdown traf die 15 Stadtführer*innen dann mit voller Härte. Die finanziellen Unsicherheiten konnten durch das sofortige Schaffen eines Corona-Notfalltopfs, der Auszahlung von Ausfallentschädigungen und Kurzarbeit entschärft werden. Doch die soziale Komponente der Pandemie wurde im Verlaufe des Jahres immer sichtbarer: aufgrund des Wegfalls der Touren und der sozialen Kontakte häuften sich die psychischen und existenziellen Probleme. Dies forderte von den Angebotsleiterinnen eine deutlich intensivere Sozialbegleitung – eine Herausforderung neben der alltäglichen Begleitarbeit (wie Unfallmeldungen, Wohnungswechsel, Schuldensanierung, Aufgleisen institutioneller Betreuung etc.). Die Tatsache, dass viele Stadtführer*innen gleichzeitig auch das Strassenmagazin verkaufen, trug, zumindest in der Zeit nach dem Lockdown, zu einer Tagesstruktur und damit zur psychischen Stabilisierung bei.

Hoher administrativer Aufwand

Das Erstellen und die fortlaufende Anpassung des Schutzkonzepts, die Schulung der Stadtführer*innen sowie die Touren-Absagen bzw. -Zusagen mit unsicherer Perspektive erforderte einen enormen administrativen Aufwand. Ab Herbst konnten einige Stadtführer*innen erste Erfahrungen mit digitalen Touren via Zoom sammeln.

Die internationale Peer-Weiterbildung des von Surprise mitbegründeten Vereins INST (International Network of Social Tours) für Stadtführer*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz musste wegen den Corona-Massnahmen ebenso verschoben werden wie auch das geplante Austauschtreffen mit Stadtführer*innen aus Berlin.

Recherche zu den Corona-Auswirkungen

Die Stadtführer*innen machte aus der Not eine Tugend: zusammen mit den Angebotsleiterinnen recherchierten sie zu den Auswirkungen der Corona-Massnahmen auf Armutsbetroffene und die aktuelle Situation in den verschiedenen sozialen Institutionen. Die Erkenntnisse wurden zügig in die Touren eingearbeitet und ab Sommer präsentiert. Positiv waren auch die zahlreichen Medienberichte mit Stadtführer*innen, die weiterhin als Expert*innen bezüglich Armut und sozialer Ausgrenzung fungieren und äusserst kompetent auftreten. Wir stellten ausserdem erneut fest, dass die Besuchergruppen sehr heterogen sind und aus allen Bereichen kommen – ein grosser Vorteil bezüglich der Sensibilisierung bis weit in die gesellschaftliche Mitte. Die äusserst guten Besucher*innen-Feedbacks, die uns über ein automatisiertes Tool erreichen, zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. 2021 ist die Etablierung von Workshops mit Schulklassen geplant.

Im Februar fand eine Weiterbildung der Surprise-Stadtführer*innen zum Thema Schulden in Olten statt.

Neue Tour zu Obdachlosigkeit in Basel

Die Angebotsleitung führte Interviews mit den Stadtführer*innen aus Basel und Zürich über ihren Weg in die Überschuldung für die neue Publikation der Fachhochschule Nordwestschweiz anlässlich der Oltner Verschuldungstagen, zu der zwei Basler Stadtführer als Experten eingeladen waren. Die Basler Stadtführer*innen absolvierten zudem erfolgreich einen Workshop «Auftrittskompetenz» mit Graziella Cisternino, der neuen Angebotsleiterin in Bern. Mit dem Besuch des Männerwohnhauses der Heilsarmee konnten sie sich vor Ort über die Entwicklungen des Projekts für Obdachlose «Housing First» informieren.

Vier Jahre lebte Benno Fricker unter Bäumen und Brücken in Basel – das ganze Hab und Gut in einem 30-Kilo-Rucksack verstaut. Auf seiner Tour «Obdachlos in Basel» zeigt er seine öffentliche «Wohnung» in Parkanlagen und auf der Gasse.

Ein Höhepunkt war die Entwicklung und der Start der neuen Tour zum Thema Obdachlosigkeit mit Benno Fricker. Die Tour rief grosses Medieninteresse hervor, musste aber leider aufgrund des Shutdowns wenige Wochen nach Start wieder gestoppt werden. Ein weiterer Höhepunkt war die Publikation des Films «Leben und Liebe auf der Gasse» mit dem Basler Stadtführer-Paar Lilian Senn und Heiko Schmitz.

Die Stadtführer*innen Markus Christen und Lilian Senn stellten sich zusammen mit einem Verkäufer und einer Chorsängerin dem Foyer Basel als early adopters zur Verfügung.

Die Basler Stadtführer*innen nahmen an diversen Projekten und Anlässen teil – etwa an einem Austausch mit dem Theater Basel über Armut in Basel, an einem Austausch zum Thema Obdachlosigkeit in einem Gottesdienst, einem Austausch mit einer Regisseurin über geplantes Filmprojekt oder einer Podiumsdiskussion zum Thema Armut.

Neu im Basler Team ist Tersito Ries, der im Oktober einen Ausbildungsvertrag unterzeichnete. Er startete mit der Biografiearbeit, um seinen Weg in die Armut und Sucht zu reflektieren. Die Tour startet voraussichtlich im August 2021.

Äusserst erfolgreich: Die Frauenarmuts-Tour «Schattenwelten» mit Sandra Brühlmann in Zürich.

Erfolgreiche Tour «Schattenwelten» in Zürich

In Zürich ist die 2019 aufgebaute Tour 7 «Schattenwelten» mit Sandra Brühlmann durchgestartet: es wurden weit mehr Touren durchgeführt, als eigentlich geplant waren. Die Nachfrage ist weiterhin ungebrochen hoch, dies nicht zuletzt dank der grossen Medienpräsenz. Erfreulich ist auch der Zusammenhalt der Stadtführer*innen während des Lockdowns: so bildete sich eine kleine Gruppe zwecks Freizeitgestaltung.

2021 sollen weitere Stadtführer*innen rekrutiert werden, um das bestehende Angebot mit weiteren Themenfeldern rund um Armut und soziale Ausgrenzung zu ergänzen.

Die Stadtführer*innen und die Angebotsleitung wurden von der ZHAW Soziale Arbeit erneut als Gastdozierende eingeladen. Im Rahmen des diesjährigen Modulbesuchs «Partizipation & Selbstbestimmung» wurde zum ersten Mal ein virtueller Auftritt bestritten.

Auch Zürich hat ein schönes cineastisches Highlight vorzuweisen: der Zürcher Stadtführer Hans Peter Meier ist einer der Protagonisten im neusten Film von Stefan Haupt («Zürcher Tagebuch»), wo er darüber spricht, dass man auch mit bescheidenen materiellen Mitteln ein zufriedenes und selbstbestimmtes Leben führen kann.

André Hebeisen (l.) und Michel Jäggi erzählen auf ihrer Tour, wie sie dem Alkohol und dem Heroin verfallen sind, mitten in der Sucht (über-)lebten und schliesslich schrittweise den Weg zurück in die Gesellschaft fanden (Foto: Ruben Hollinger).

Neue Tour mit Suchtbetroffenen in Bern

Anfangs Januar startete die Tour 4 «Wege aus der Sucht» mit Michel Jäggi und André Hebeisen. Die grosse Medienpräsenz zog erfreulicherweise viele Besucher*innen an. Der Lockdown führte neben dem Tourenunterbruch dazu, dass eine Frau ihre Ausbildung zur Stadtführerin vorübergehend unterbrechen musste. Im Juni, nur kurz nach dem Lockdown, nahm Graziella Cisternino ihre Arbeit als Angebotsleiterin auf. Sie übernahm die Stelle von Helen Kilchhofer, die die Sozialen Stadtrundgänge Bern 2018 aufgebaut und seither geführt hatte. Durch gesundheitliche Probleme eines Stadtführers musste die Tour 4 ab August leider bereits wieder sistiert werden. Der Kontakt zwischen dem krankgeschriebenen Stadtführer, dem Stadtführer*innen-Team und der Angebotsleitung wurde dennoch aufrechterhalten. Auch wenn die Gruppengrösse der Touren sukzessive verkleinert wurde und es bis Ende Jahr zum zweiten Stillstand kam, entstand ein vertrauensvoller Austausch mit der neuen Angebotsleitung und dem Berner Team. Auch die Neugierde auf Vernetzung mit den Stadtführer*innen aus Basel und Zürich ist gewachsen.

2021 soll die Auftrittskompetenz der Stadtführer*innen geschult werden und eine Zoom-Tour ermöglicht werden.

Zahlen und Fakten

Zahlen und Fakten

  • 361 Touren mussten aufgrund der Corona-Massnahmen abgesagt werden, die Einnahmen gingen gegenüber dem Vorjahr um 35 Prozent zurück.
  • Auf insgesamt 702 Touren wurden 9697 Besucher*innen durch Basel, Bern und Zürich geführt.
  • Seit dem Start der Sozialen Stadtrundgänge 2013 ermöglichten wir bereits 79’465 Personen einen anderen Blick auf ihre Stadt.
  • Auf 131 Frauenarmuts-Touren konnten die Besucher*innen erfahren, was es für Frauen bedeutet, aus dem sozialen Netz zu fallen.