Kommentar: Ein asoziales Geschäft

Kommentar zum Teil 1 «Das Geschäft mit den Schulden» der Schulden-Serie.

21.05.2021Text: Andres Eberhard

Andres Eberhard, Surprise-Autor bis 2022

Wer Schulden hat, leidet. Wer viele Schulden hat, ist oft arm. Beides ist in der Forschung bestens belegt. Und doch kursiert ein fatal falsches Narrativ über Schuldner*innen: jenes der dreisten Konsument*innen, die ganz und gar selbst daran schuld sind, die ihre Rechnungen absichtlich nicht bezahlen und sich damit durchs Leben schmarotzen – ob nun auf Kosten von Firmen und deren Angestellten oder auf Kosten des Staats und seiner «korrekt zahlenden» Bürger. Wo Solidarität angebracht wäre, wird Neid und Missgunst geschürt.

Das bildet die Basis, um Schuldner*innen im Gesetz schlechter zu stellen – zugunsten der Gläubiger*innen. Davon profitieren die Inkassobranche, private Schuldensanierer, Betreibungsämter – und die Krankenkassen. Während viele Menschen nicht mehr in der Lage sind, die steigenden Prämien zu bezahlen und dadurch in die Schuldenfalle geraten, tun Krankenversicherungen rein gar nichts, um Schuldner*innen daraus zu befreien. Im Gegenteil machen sie auf Kosten der Ärmsten sogar Gewinne. Das ist asozial.

Grund dafür sind Fehlanreize im Gesetz. Die Parlamentarier*innen in Bern müssen an den Stellschrauben zugunsten der Schuldner*innen drehen. Am besten sofort: Eine Möglichkeit bietet die laufende Revision des Artikels 64a des Krankenversicherungsgesetzes (KVG). Um die Ärmsten zu stärken, sollten Betreibungen eingeschränkt, Sperrlisten abgeschafft, das Wechselverbot aufgehoben, Minderjährige von der Schuldenlast ihrer Eltern befreit und das Inkasso den Kantonen übertragen werden – notfalls auch gegen den Willen der mächtigen Krankenkassen-Lobby.

Die Gesellschaft muss aber auch in anderen Bereichen Verantwortung übernehmen für die Kehrseite unseres Lebens auf Pump. Längst finanzieren wir unseren Wohlstand zu einem beträchtlichen Teil mit Schulden. Ob nun Kreditkarte, Ratenzahlung, Leasing oder Hypothek: In der Werbung werden solche Deals angepriesen und unsere auf Konsum ausgerichtete Gesellschaft fördert das Verschulden regelrecht. Wer aufgrund von Brüchen oder Lebenskrisen – Jobverlust, Krankheit, Scheidung – in die Schuldenfalle gerät, dem muss geholfen werden.

Hier hat die Schweiz Nachholbedarf. Die Politik sollte endlich ein effektives Entschuldungsverfahren beschliessen. Denn eine Sanierung befreit nicht nur Schuldner*innen von einer riesigen Last, sondern hilft allen. Unsere Gesellschaft finanziert sich durch Steuern und Konsum. Beides braucht Bürger*innen, die ihre Rechnungen bezahlen können. Dass private Firmen dafür auf einen Teil ihres Gewinns verzichten müssen, ist ein vergleichsweise tiefer Preis. Wer verantwortungsvoll eine Firma führt, kalkuliert Zahlungsausfälle ohnehin schon in sein Budget mit ein.

Das Narrativ der dreisten Schuldner*innen hat sich unbemerkt tief in unseren Alltag eingenistet. Die Rede ist von sinkender «Zahlungsbereitschaft» oder gar fehlender «Zahlungsmoral», wenn es um unbezahlte Steuern oder Krankenkassenprämien geht. Als ob Armut etwas mit Moral zu tun hätte. Schauen wir den Fakten ins Auge: Immer mehr Menschen in der Schweiz haben zu wenig Geld, um in Würde zu leben. Doch wir haben einen mächtigen Hebel, um Armut zu bekämpfen, und das ist die Schuldenprävention. Betätigen wir ihn!

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