Gebühren, Tricks und Daten

Inkassobüros wirken am Rand der Legalität. Besonders trickreich geht die Infoscore AG vor. Die Firma eines deutschen Milliardenkonzerns treibt auch Gelder für Schweizer Behörden ein – zu einem verdächtig tiefen Preis.

21.05.2021Text: Andres Eberhard, Illustration: Marcel Bamert
Sorgenfrei verschuldet

Illustration: Marcel Bamert

 

«Ich muss Gewicht abnehmen. Abnehmen. Abnehmen!» So erinnert sich Tamara Seiler* an ihre Gefühlslage im November 2019, als sie in einem Onlineshop das Getränkepulver «Fat Burner» in den Warenkorb legte. Eine 30er-Packung. Mit Cranberry-Geschmack. Sie setzte die Menge auf 2 und bestellte. Kostenpunkt: 69,80 Franken.

Den Brief mit der Rechnung öffnete sie nie. Seiler hat seit Jahren Geldprobleme. Sie weiss: Schlechte Nachrichten kommen oft in grauen Couverts. Viele Briefe warf sie ungelesen in eine Kiste. «Aus Angst, gar nicht mehr zu funktionieren, wenn ich den Inhalt sehe», erklärt sie. Aber sie musste funktionieren. Der Wecker klingelt um 5.30 Uhr, jeden Werktag. Seiler, Anfang dreissig, arbeitet als Elektrikerin.

Einige Monate später öffnete sie die Post doch. Sie fand darin eine Rechnung der Infoscore AG aus Schlieren. Die Forderung: über 500 Franken. Was das Inkassobüro von ihr wollte, wusste sie zu diesem Zeitpunkt nicht. Denn vom Abnehmpulver stand darin kein Wort. Im Schreiben war lediglich von Hauptforderung, Zinsen, Bonitätsprüfkosten und Verzugsschaden die Rede. Erst als sie sich mit ihrer Post an die Schuldenberatung des Kantons Zürich wandte, konnte sie den Fall rekonstruieren – und fand in alten Briefen auch noch happige Mahn-, Administrations- und «Dossierübergabegebühren».

All das sei typisch für die Inkassobranche, sagt Seilers Schuldenberaterin Katharina Blessing. «Inkassofirmen blasen ihre Forderungen mit Gebühren und Zinsen auf.» Nach geltendem Recht seien lediglich ein Verzugszins von fünf Prozent sowie angemessene Mahngebühren geschuldet.

Die Infoscore AG gilt unter den Schuldenberaterfirmen als besonders kompromisslos. Während andere wie etwa Marktführerin Intrum als gesprächsbereit gelten, wenn es um umstrittene Gebühren geht, halte Infoscore stur an ihren Forderungen fest. Blessing ergänzt, dass es nur schon schwierig sei, überhaupt jemanden ans Telefon zu bekommen.

In Seilers Fall liess ein Verzugszins von 14,9 statt der üblichen fünf Prozent die Rechnung weiter ansteigen. Gemäss Blessing handelt es sich um einen relativ neuen Trick: Onlinehändler verstecken in ihren AGBs einen Abschnitt, der den hohen Zins bereits beim Vertragsabschluss festlegt. Die Schuldenberaterin betrachtet das Vorgehen als Verstoss gegen das Bundesgesetz gegen unlauteren Wettbewerb: Die Stelle hätte ihrer Meinung nach deutlich ersichtlich, zum Beispiel fettgedruckt sein müssen.

Doch das war nicht der Fall, im Gegenteil. Recherchen zeigen vielmehr, wie durchdacht der Trick ist und wie damit letztlich eine einzige Kasse gefüllt wird: jene von Arvato, dem deutschen Mutterkonzern der Infoscore AG, der jährlich über vier Milliarden Euro Umsatz erzielt. Der Händler des Abnehmpulvers – die Inodrink AG aus Bottighofen im Thurgau – verweist in seinen AGBs darauf, dass der Kauf auf Rechnung für Kund*innen in der Schweiz über das Angebot «Powerpay» abgewickelt werde. Bei einer Bestellung werden automatisch auch dessen AGBs akzeptiert. Erst wer ein zweites Mal das Kleingedruckte studiert, entdeckt die happigen Verzugsgebühren und -zinsen. Hinter «Powerpay» steckt das St. Galler Unternehmen MF Group. Und dieses wiederum gehört zum deutschen Milliardenkonzern Arvato – genau wie die Infoscore AG.

Kantone als Kunden

Wenige Wochen nach der Rechnung von Infoscore über 500 Franken fischte Seiler erneut ein graues Couvert aus dem Briefkasten. Wieder ging es um das Abnehmpulver. Dieses Mal jedoch waren als Absender die «Walder Häusermann Rechtsanwälte» vermerkt. Diese drohten ihr damit, notfalls gerichtlich vorzugehen. Und addierten einen «Anteil Anwaltshonorar» von 117,50 Franken zur Rechnung. Innerhalb von weniger als einem Jahr war die Forderung also von 69,80 Franken auf 638,50 Franken gestiegen.

Auffällig: Obwohl die Anwälte mit ihrer Kanzlei in der Stadt Zürich sitzen, kam das Schreiben von einer Adresse in Schlieren. Am genau gleichen Ort befindet sich der Hauptsitz der Infoscore AG. Einen Briefkasten der Anwälte sucht man dort vergebens – und die angegebene Telefonnummer führt zu einer Hotline, auf der dieselbe Hintergrundmusik schallt wie bei jener von Infoscore.

Allen Tricks und illegalen Gebühren zum Trotz: Die Infoscore AG treibt seit einigen Jahren auch Gelder für die öffentliche Hand ein. Im Jahr 2017 übergab die Zürcher Kantonsregierung der Firma 3500 Verlustscheine zur Bewirtschaftung. Seit letztem Jahr ist sie zudem im Auftrag des Kantons St. Gallen tätig, wie ein Blick auf die Vergabeplattform Simap zeigt. 9290 Verlustscheine seien dort in Bearbeitung, bestätigt der Kanton auf Anfrage. Weitere Behörden wie die Stadt Schlieren vertrauen auf die Dienste der Firma.

Im Fall von Zürich war die Auslagerung des Inkassos eine Massnahme der «Leistungsüberprüfung 2016» – ein Sparprogramm. Gemäss Auskunft der Finanzdirektion resultierten seither jährliche Erträge von durchschnittlich rund 90 000 Franken. In St. Gallen beziffert man die Erträge bislang auf rund 120 000 Franken. Beides sind ordentliche Beträge, wenn man bedenkt, dass die Behörden keinerlei Aufwände für ein eigenes Inkasso haben. Sparen lässt sich mit der Auslagerung des öffentlichen Inkassos also allem Anschein nach durchaus. Doch zu welchem Preis?

«Diese Entwicklung ist nicht gut, sie macht es schwierig, einvernehmliche Lösungen zu finden», sagt Pascal Pfister vom Dachverband der Schweizer Schuldenberatungen. Und Jürg Gschwend, Leiter der Basler Schuldenberatung Plusminus, weist darauf hin, dass es für Behörden auch andere Wege als die Zusammenarbeit mit privaten Firmen gebe, um kosteneffizient zu arbeiten. In Basel-Stadt etwa übernehme das Steueramt das Inkasso. «Behörden sollten Schulden selbst bewirtschaften. Damit beim Inkasso auch soziale Aspekte berücksichtigt werden», sagt Gschwend.

Eine Auslagerung der Verlustscheine erschwert also Menschen den Weg aus der Schuldenspirale. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum der Trend problematisch ist. Es geht auch um Datenschutz.

Unschlagbare Angebote

Erst auf ausdrückliche Nachfrage gibt die Zürcher Finanzdirektion bekannt, dass tatsächlich viel mehr als nur 3500 Verlustscheine an die Infoscore übergeben wurden. Der einstige Beschluss des Regierungsrats machte es möglich, dass noch weitere Ämter ihre Verlustscheine an die Infoscore AG ausgelagert haben – wie das Steuer- und Strassenverkehrsamt. So liegen weitere 102 000 beziehungsweise 29 800 Verlustscheine des Kantons bei der Infoscore, wie die Ämter mitteilen.

Wortkarg ist der Kanton auch, wenn es um Details zum Vertrag mit der Infoscore AG geht. Auf die Frage, wie viel die Firma für sich behält, möchte die Finanzdirektion nicht antworten. Und dies, obwohl der Regierungsrat seinerzeit selbst die Zahl veröffentlichte: Gemäss Beschluss von 2017 betrug die Provision 7,5 Prozent. Herauslesen lässt sich ausserdem, dass die Infoscore AG den Zuschlag vor allem darum erhielt, weil sie dem Kanton das günstigste Angebot unterbreitete. Wie in Zürich setzte sich die Firma auch in St. Gallen gegenüber vier Konkurrenten durch – dort mit einer Provision von 15 Prozent.

Was sich die Infoscore AG von diesen Deals verspricht, ist unklar. Aus finanzieller Sicht sind die öffentlichen Aufträge nicht besonders lukrativ. Rechnet man mit den bekannten Erträgen und Provisionen, verdiente Infoscore in Zürich mit 3500 Verlustscheinen pro Jahr lediglich rund 7300 Franken. In St. Gallen wiederum sind es aufgrund der doppelt so hohen Provision immerhin rund 21 200 Franken. Und auch mit umstrittenen Gebühren kann die Firma kein Geld machen. Denn Verzugsschaden sowie Teilzahlungsgebühren darf die Firma bei kantonalen Forderungen nicht geltend machen.

Aus Sicht der Behörden dagegen müssten die Deals paradoxerweise gerade darum misstrauisch machen, weil sie so gut sind. Denn im Verlustscheingeschäft ist das Prinzip «halbe-halbe» üblich. Das heisst, dass sich Gläubiger und Inkassofirma die Erträge zu 50 Prozent aufteilen, falls Schuldner*innen doch noch zahlen. Das geht aus Gesprächen mit Branchen-Insidern hervor. Je nach Alter und Forderungshöhe werde manchmal auf 60 zu 40 verhandelt, sagt einer. Aber nur 7,5 beziehungsweise 15 Prozent? Das erstaunt auch einen Vertreter der Konkurrenz: «Manche Inkassobüros nehmen solche Fälle nur an, um ihre Datenbanken mit Negativdaten zu ergänzen.»

Tatsächlich sind Daten und Algorithmen für Inkassobüros zu ihrem vielleicht wichtigsten Verkaufsargument geworden. Das zeigt auch die Tatsache, dass viele Inkassofirmen in ihrem Namen den Zusatz «Score» (zu deutsch: Punktzahl) tragen. Die erfolgreichsten Geldeintreiber*innen stehen nicht mehr vor der Haustür. Sie sitzen am Computer und durchforsten riesige Datenmengen mit Angaben zur finanziellen Situation von Konsument*innen. Je besser die Daten, desto grösser ihre Erfolgschancen.

Die Infoscore AG kann sich mit Daten also einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Aber nicht nur: Daten über Schuldner*innen werfen auch direkt Geld ab. Denn die deutsche Mutterfirma von Infoscore AG betreibt eine Bonitätsdatenbank, in der Firmen, Vermieter*innen oder Arbeitgeber*innen gegen Gebühr Auskunft über Personen verlangen können. In Deutschland ist Arvato Infoscore die zweitgrösste Wirtschaftsauskunftei (hinter der Schufa). Ihre Dienste bietet die Firma in vierzig Ländern weltweit an.

Für die Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) sind solche Bonitätsdatenbanken schon seit Langem «ein rotes Tuch», zumal sich durch das neue Datenschutzgesetz nichts ändere. Es komme relativ häufig vor, dass Einträge entweder nicht stimmten oder nicht gerechtfertigt seien – mit schwerwiegenden Nachteilen für Betroffene. Job- und Wohnungssuche können erschwert, eine Kreditaufnahme verunmöglicht werden. «Hier findet eine Datensammlerei, -bearbeitung und -weitergabe statt, ohne dass sich die Betroffenen dessen bewusst sind. Eine geheime Industrie, die abseits der gesetzlichen Regelungen schalten und walten kann, wie sie will», sagt Cécile Thomi vom SKS.

Was also geschieht mit den über 130 000 Verlustscheinen aus Zürich, den knapp 10 000 aus St. Gallen und den vielen weiteren Daten, welche Schweizer Behörden der Infoscore AG übergeben?

Amtsgeheimnis in guten Händen?

Aus Sicht des Datenschutzes ist der Fall klar: Infoscore AG darf die Daten nur für die Verlustscheinbewirtschaftung und nicht für andere Zwecke verwenden. Das sagt Dominika Blonski, Datenschutz-Beauftragte des Kantons Zürich. «Auch wenn ein öffentliches Organ Datenbearbeitungen auslagert, bleibt es weiterhin für die Daten verantwortlich.» Beim Kanton verweist man darauf, dass es der Infoscore vertraglich «ausdrücklich untersagt worden ist», Daten in Bonitätsdatenbanken einzuspeisen oder auf andere Weise zu verwerten. Die Finanzdirektion habe auch schon ein Audit durchgeführt und feststellen können, «dass die speziellen Vorschriften des Kantons eingehalten und durch entsprechende IT-Vorkehrungen unterstützt werden», so Roger Keller, Sprecher der Finanzdirektion.

Wie geht die Infoscore AG mit dem Amtsgeheimnis um, das ihr die Behörden anvertrauen? Auf eine Anfrage an die Schweizer Geschäftsleitung antwortet ein Arvato-Sprecher aus Baden-Baden: «Es versteht es sich von selbst, dass wir uns streng an Gesetzesvorgaben halten und das Wohl der Konsumenten in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen.» Er verspricht, dass die Daten des Kantons nicht in Datenbanken gespeichert und auch nicht an Auskunfteien weitergegeben würden.

Eine ruhmreiche Geschichte hat die Firma beim Datenschutz allerdings nicht: In Deutschland gab sie 2016 Daten von Kund*innen der Deutschen Bahn ohne deren Wissen weiter. Das Fernsehen deckte den Skandal auf. Und vor vielen Jahren fanden Journalist*innen des «Beobachters» am Schweizer Firmensitz in Schlieren vertrauliche Daten in Form von Kreditkartenanträgen, Steuerformularen oder Betreibungsregisterauszügen – ungeschreddert entsorgt in einem offenen Altpapiercontainer.

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