#572 Träumen von der weiten Welt

Drei junge Marokkaner*innen erzählen, warum für sie eine Flucht aus der Heimat
nicht in Frage kommt. Kritik haben sie trotzdem – und auch nicht immer die besten Aussichten.

18.04.2024TEXT: ANDREA MARTI, FOTOS: ABDELLAH AZIZI

Haffsa H’rouche betritt das Café zielstrebig, sie trägt Blazer und Stoffhosen, obwohl Sonntagnachmittag ist. Einen Hijab, das Kopftuch, trägt die 22-Jährige nicht. Das ist ihr zu konservativ. Das Café, das sie vorgeschlagen hat, ist hell und modern eingerichtet. An den Holztischen sitzen Expats und Marokkaner*innen, die sich auf Englisch oder Französisch unterhalten, sie trinken Iced Latte oder Zitronen-IngwerSaft, essen Bananenbrot dazu. Das Café könnte überall sein, in Barcelona, Berlin, Zürich oder New York.

H’rouche träumt vom Fliegen. Sie will nach Kanada, in die Türkei, nach China. Dass sie solche Ideen verfolgen kann, verdankt sie ihren Eltern, die noch kleinere Perspektiven hatten. Sie stammen beide aus einem kleinen Dorf im Atlasgebirge, einer Gegend, wo vor allem Amazigh wohnen, marokkanische Berber*innen. Für den Tourismus ist Ouarzazate das Tor zur Wüste, einige Kilometer dahinter liegen Zagora und Merzouga, die beiden bekanntesten Wüstenstädte Marokkos. Deshalb trifft sich hier die ganze Welt, Leute aus Frankreich, Spanien und China kommen hierher, auf der Suche nach Dünen, Kamelen und Sternenhimmeln. Für die Menschen aber, die hier wohnen, ist ihr Dorf die ganze Welt. Ins Ausland reisen können nur wenige. Allein um ein Visum zu bekommen, muss man stundenlang Dokumente ausfüllen und sehr, sehr viel Geld mitbringen.

Jene, die von weit entfernten Orten träumen, so wie H’rouche, holen diese Orte deshalb zu sich. Sie arbeiten mit Tourist*innen, bringen Expats Arabisch bei, sie pinnen mit Magneten fremde Geldnoten an ihre Kühlschränke und bewahren Postkarten wie Schätze auf, die sie von Gästen aus Deutschland, Frankreich oder den USA zugeschickt bekommen.

Auch H’rouche möchte auf diese Weise der Welt näherkommen, solange sie sich das Reisen noch nicht leisten kann. Deshalb arbeitet sie Teilzeit als Touristguide in Rabat, zeigt Fremden die Stadt, erklärt, wie Marokko funktioniert, und beantwortet Fragen wie: «Gibt es bei euch Eiscreme?» oder «Habt ihr Sex vor der Ehe?». Trotzdem nervt sie der Blick mancher Tourist*innen auf das Königreich. «Manche aus Amerika kommen hierher und wissen nicht einmal, dass Marokko in Afrika ist», regt sich H’rouche auf. «Und Leute aus Frankreich schauen immer noch auf uns herab. Viele von ihnen sind rassistisch, manche haben offenbar noch nicht gemerkt, dass der Kolonialismus vorbei ist. Wirklich, ich hasse Frankreich einfach!», sagt H’rouche und spricht damit vielen jungen Marokkaner*innen aus der Seele.

Derzeit werden antifranzösische Haltungen im Land immer stärker. Kurz nach dem Erdbeben, das Marokko im September 2023 erschütterte und tausende Menschen tötete, machte nach einer Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron der Hashtag #Macronexplosion die Runde. Das Königreich hat ein kompliziertes Verhältnis zu seiner ehemaligen Kolonialmacht. Denn bei aller Ablehnung ist Marokko wirtschaftlich noch immer stark von Frankreich abhängig, viele staatliche Institutionen wurden nach französischem Vorbild geplant und funktionieren nach wie vor. Wer gut Französisch spricht, kann sich der Bewunderung anderer sicher sein. Deshalb gilt noch immer: Wer es schaffen will, geht, trotz allem, nach Frankreich.

H’rouche aber möchte es in Marokko schaffen. «Ich kann mir kein Land vorstellen, in dem ich lieber leben würde. Die Gastfreundschaft, das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, das würde mir im Ausland fehlen.» Um Tourist*innen ein differenzierteres Bild ihres Landes zu vermitteln, möchte sie eines Tages Reisen durch das ganze Land anbieten. Dabei wären dann nicht nur Marrakesch und Casablanca, sondern eben auch die Berge im Norden des Landes oder die Dörfer abseits der vielbeschrittenen Pfade in der Wüste – wie jenes, aus dem ihr Vater stammt. H’rouche macht sich damit zunutze, wie stark sich Marokko in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Unter dem gegenwärtigen König, Mohammed VI, hat sich das Land modernisiert und nach aussen geöffnet. Die Zahl der Tourist*innen, die Marokko besuchen, steigt Jahr für Jahr und schafft so neue Jobs – für Menschen wie H’rouche, die dank dem sozialen Aufstieg ihrer Eltern das Leben einer modernen, mittelständischen jungen Frau führt – und die von der Welt träumt, welche sie einst selber bereisen möchte.

Teures Leben

Auch Aziz Slaoui träumt vom Reisen. Er war bereits einmal im Ausland, machte Ferien in der Türkei. Die Reise war für ihn ein Highlight, von dem er noch Monate später erzählt. Allzu oft kann sich Aziz solche Reisen aber nicht leisten. Und das, obwohl er sich sogar eine Festanstellung «erkämpft» hat. Das klingt dramatisch, ist aber das richtige Wort angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit im Land (siehe Seite 14). Und angesichts der Tatsache, dass alles gegen Slaoui sprach, als er auf die Welt kam.

Slaoui wuchs in Fès auf, das drei Stunden von Rabat entfernt liegt. Endlose rotbraune Erdlandschaften säumen die Strecke, ab und zu tauchen Kamele und Esel vor dem Zugfenster auf, manchmal mit einem Bauern, der aufpasst, manchmal allein. Fès ist bekannt für seine Altstadt, die Medina. Sie liegt hinter einem riesigen Tor, das mit winzigen Mosaiksteinen dekoriert ist. In den engen Gassen dahinter bieten Marktschreier Ledertaschen, handgewobene Decken oder Körbe an. Oft stapelt sich die Ware so, dass kaum ein Durchkommen ist. Diebstähle, Drogendelikte und Übergriffe sind hier häufig.

Das war auch in Slaouis Viertel so. Viele Menschen waren arm, auch Aziz’ Familie, obwohl er zögert, sie als dieses zu bezeichnen. «Wir wohnten in einem Haus, wir hatten zwei Zimmer, eines für die Frauen, das andere für die Männer», sagt Slaoui. «Das Geld reichte für Essen oder Kleidung. Aber ja, im Vergleich mit reichen Menschen waren wir schon arm.» Slaoui entschloss sich, wegzuziehen. Mehrere Jahre zog er durchs Land, von Fès nach Casablanca, nach Meknes und Salé, schliesslich kam er in die Hauptstadt Rabat. Er tat damit, was viele junge, arme Marokkaner*innen machen: Er zog in die reicheren Städte, auf der Suche nach einem besseren Leben. Viele haben kein Glück. Sie landen in einem der Slums, die an Rabats Stadträndern aufragen, und halten sich mit Betteln, Stehlen oder Dealen über Wasser. Slaoui aber hatte Glück. Er machte eine Ausbildung zum Koch und fand gleich darauf eine Festanstellung. Er kann sich deshalb die Miete für seine Wohnung leisten, die in einem Wohnblock gleich bei der Medina von Rabat liegt, und ab und zu geht er aus.

Ein Donnerstagmittag, es ist Slaouis freier Tag. Er hat ein Ritual für diesen Tag, am Morgen geht er ins Fitnessstudio, zu Mittag isst er Fisch. An diesem Donnerstag soll es Thunfisch sein. Also Spaziergang zur Medina, vor deren Eingang in einem flachen Gebäude ein Lebensmittelmarkt untergebracht ist. Ein grosses grünes Schild prangt über dem Eingang, «Marché Central» steht da, auf Französisch. Hinter dem Tor, auf der linken Seite, befindet sich der Fischmarkt. Auf Eiswürfeln ausgebreitet liegen auf meterlangen Tischen Aale, Oktopusse und Garnelen. Auf dem Boden stehen Bottiche mit lebenden Muscheln, alle paar Sekunden atmet eine, dann spritzt Wasser aus dem Bottich. Menschen kommen und gehen, manche fragen nach dem Preis von diesem oder jenem Fisch, ältere Frauen lassen sich Sardinen oder Garnelen abwägen und gehen weiter.

Slaoui bleibt länger, er fragt an jedem Stand nach, wie teuer das Thunfischfilet gerade ist. 90 Dirham für zwei Stück an einem Stand, 110 Dirham am nächsten, das sind umgerechnet etwa 26 Franken. «Puh, vor ein paar Monaten kostete das noch 70 Dirham», sagt Slaoui. Es gehe nicht darum, dass er sich den Fisch so nicht mehr leisten könnte, schiebt er noch nach. Aber er wirkt angespannt. «Alles wird teurer, und das schnell.» Die Inflation belastet viele in Marokko, auch im wohlhabenden Rabat. Kaum eine Party vergeht, ohne dass die Lebensmittelpreise Thema werden. Die Inflation betrifft vor allem Lebensmittel. Über zehn Prozent teurer als noch letztes Jahr um diese Zeit sind sie inzwischen, und eine Trendumkehr ist nicht in Sicht.

Im Moment kann sich Slaoui noch durchschlagen. Er plant sogar, eine weitere Ausbildung zu machen und währenddessen nur noch Teilzeit zu arbeiten. Wie das gehen soll, finanziell? Das wisse er noch nicht, aber er werde bestimmt eine Lösung finden – entweder hier in Rabat oder wenn es sein müsse halt woanders. In Tanger zum Beispiel, da sei es auch schön, sagt Slaoui.

Bleiben trotz Resignation

Yassine Chakiri sitzt in einer Ecke seines Lieblingscafés, vor ihm stehen eine halbleere Tasse längst kalten Espressos und ein Teller mit den Hülsen gegessener Sonnenblumenkerne. Ganze Tage verbringt Yassine hier, sein Job bei einem Webshop für E-Zigaretten nimmt nicht allzu viel Zeit in Anspruch. Ab und zu scrollt er auf dem Handy, schaut aus dem Fenster, nimmt einen Schluck Kaffee. Immer wieder kommen Freunde vorbei, Handschlag, Umarmung, «Wie geht’s?», «Alles gut, hamdullilah, Gott sei Dank», antwortet Chakiri.

Während er im Café sitzt, schreibt Yassine auf dem Handy Nachrichten an seine Freundin. Chakiri ist zwar gläubiger Muslim, doch er hält sich nicht allzu streng an religiöse Regeln. Halal zu leben, das würde strenggenommen bedeuten: kein Sex vor der Ehe, kein Alkohol, keine Drogen. Der 26-Jährige findet, er sei noch jung. Zu jung, um die Verantwortung für eine Ehe zu übernehmen, für Kinder sowieso. Auch zu jung, um Partys und Alkohol hinter sich zu lassen. Irgendwann, sagt er, möchte er schon heiraten. Aber noch nicht jetzt. Denn sobald er verheiratet ist, möchte er ein ruhigeres Leben führen. «Dann will ich mich an all diese Regeln halten, keine Drogen, kein Alkohol, häufiger beten», sagt Yassine. «Doch jetzt bin ich noch nicht bereit dazu.» Was seine Familie davon hält? «Einfach nicht allzu viel erwähnen», sagt Yassine und grinst. Seine Eltern seien sehr gläubig, seinen Lebensstil würden sie kaum unterstützen. Solange er aber einen beständigen Job habe und beschäftigt sei, würden sie sich damit zufriedengeben und bei allem anderen wegschauen. Damit kann sich Chakiri arrangieren.

Das grosse Glück, das ist Yassines Leben für ihn gerade nicht. Seinen Job mag er nicht besonders, sein Lohn reicht für das Leben von Tag zu Tag, mehr nicht. Er schlägt sich auch durch, indem er sich damit zufriedengibt, wo er steht – mehr oder weniger. Denn eigentlich würde Chakiri lieber als Webdesigner arbeiten, schliesslich ist er ausgebildeter Grafiker. Er hat Freude daran, kreativ zu sein, Dinge zu gestalten. T-Shirts würde er gerne designen, sagt Chakiri, ein Modelabel gründen. Aber um sich selbständig zu machen, fehle ihm die Disziplin, meint er lapidar. Und Jobs gebe es nicht viel in seinem Arbeitsgebiet. «Alle haben eine Ausbildung, eine gute sogar, aber im eigenen Feld arbeiten, das kann fast niemand.» So sei das halt, sagt Chakiri mit einem Schulterzucken, und in seiner Stimme liegt eine Resignation, die in Marokko allgegenwärtig ist.

Und doch will Yassine Chakiri, wie auch Haffsa H’rouche und Aziz Slaoui, bleiben. Es ist schwer zu sagen, weshalb genau sie nicht zu jenen gehören, die sich verzweifelt in eines der Gummiboote nach Europa wagen oder es über den Landweg versuchen. Ist es Glück, Durchhaltewillen, Privileg, persönliche Bindungen, Kreativität? Wahrscheinlich von allem ein bisschen.

 

 

 

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