Blutdruck messen und gegen Rassismus kämpfen

Rassismus: Es gehöre zu ihrem Alltag, von Patient*innen rassistisch diskriminiert zu werden, sagen zwei Schwarze Pflegende. Wie geht man damit um? Eine Anleitung für Betroffene, Kolleg*innen und Vorgesetzte.

15.05.2023Text: Lea Stuber
Illustration mit dem Text: Woher kommst du eigentlich?

Illustration: Bodara

Patient*innen fragten sie, wo sie Schweizerdeutsch gelernt habe, erzählt Charlotte N. Oder beschimpften sie mit dem N-Wort. Naomi M. sagt, bei allen neuen Patient*innen mache sie sich vorab darauf gefasst, dass sie sich rassistisch äussern könnten.

Charlotte N. und Naomi M. sind zwei Schwarze Frauen und arbeiten in der Pflege. Beide sagen: Rassistische Diskriminierungen gehören zu ihrem Arbeitsalltag. Charlotte N. fühlte sich von ihrem Arbeitgeber nicht genügend geschützt, sie wehrte sich und verlor schliesslich ihren Job. Wegen der Kündigung hat sie beim Friedensrichteramt nun eine Klage eingereicht.

Um das Schlichtungsverfahren nicht zu beeinflussen, berichtet Surprise noch nicht über Charlotte N.s Fall. Stattdessen schauen wir uns an, was Sie als Pflegende*r tun können, wenn Sie rassistisch diskriminiert werden. Und wie Sie als Teamkolleg*in oder Vorgesetzte*r reagieren können. Einschätzungen kommen von Gina Vega vom Beratungsnetz für Rassismusopfer bei humanrights.ch, von Giulia Reimann von der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR), von Pierre-André Wagner vom Schweizer Berufsverband der Pflegefachpersonen (SBK) und von Samuel Burri von der Gewerkschaft Unia.

Das Wissen

Dass in der Pflege, wo zu knapp 90 Prozent Frauen und darüber hinaus viele Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten, sexuelle Belästigung verbreitet ist, ist erkannt. Wenn Sie wie Charlotte N. und Naomi M. Rassismus erleben, eine ähnliche Form von Diskriminierung, dürfte Ihnen die Problematik bekannt sein. Doch grundlegende Forschung zu Rassismus in der Pflege gibt es in der Schweiz kaum.

Man weiss also nicht, wie oft Patient*innen oder Bewohner*innen von Alters- und Pflegeheimen Pflegende wie Sie aufgrund von Hautfarbe, ethnischer Herkunft, religiöser Zugehörigkeit, von Sprache oder Name – also persönlicher Merkmale, die nichts mit Ihren Leistungen zu tun haben – beschimpfen, anfeinden, herabwürdigend behandeln oder sich nicht von Ihnen pflegen lassen wollen. Ebenso wenig, wie oft rassistische Diskriminierungen von Arbeitskolleg*innen oder Vorgesetzten kommen, etwa wenn sie Ihnen aus den gleichen Gründen weniger zutrauen oder Ihnen misstrauen.

Einen Hinweis gibt der jährliche Rassismusbericht vom Beratungsnetz für Rassismusopfer von humanrights.ch und der EKR, der aber lediglich die den Beratungsstellen gemeldeten Fälle zählt. Der Arbeitsplatz ist dabei der Bereich mit den meisten Fällen, mehr als etwa Bildung, Verwaltung oder Nachbarschaft. Wie gross das Problem in der Pflege verglichen mit anderen Branchen ist, lässt sich daraus aber nicht ableiten.

Eine der wenigen Schweizer Studien ist die Masterarbeit der Physiotherapeutin Zuleika Schwarz von 2019. Darin berichten zehn Schwarze Pflegende von ausgrenzenden Bemerkungen («Woher kommen Sie ursprünglich?», «Warum sprechen Sie so gut Schweizerdeutsch?»), dem Absprechen von Professionalität bis hin zu offener Ablehnung («Die Negerin muss morgen nicht wieder kommen!»). Auch durch die Abwertung oder Unterschätzung durch andere Pflegende oder medizinische Fachkräfte bekämen sie das Gefühl, keine Fehler machen zu dürfen und für die gleiche Anerkennung mehr leisten zu müssen. Vielerorts bleibe der alltägliche und strukturelle Rassismus unerkannt, werde heruntergespielt und ungern angesprochen.

In Grossbritannien, Kanada oder den USA sei rassistische Diskriminierung für Pflegende eine alltägliche Erfahrung, hält eine deutsche Studie von 2022 fest. Auf struktureller Ebene werde Schwarzen Menschen die berufliche Weiterentwicklung schwerer gemacht, zudem erlebten sie häufiger Disziplinarverfahren. All dies führe zu tieferer Zufriedenheit mit dem Job, schlechterer Gesundheit, höherem Stress sowie mehr Krankheitstagen.

Die rechtliche Situation

Ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz, wie etwa Deutschland oder Österreich eines haben, gibt es in der Schweiz nicht. Dennoch muss Ihr Arbeitgeber Sie als Betroffene*n am Arbeitsplatz vor jeglicher Diskriminierung schützen. Er muss Massnahmen ergreifen, um Ihre Persönlichkeit sowie Ihre persönliche Integrität zu schützen. Dies besagt die Fürsorgepflicht (Art. 328 Obligationenrecht OR und Art. 6 Abs. 1 Arbeitsgesetz ArG). Spezifisch vor schweren rassistischen Handlungen und Äusserungen sollte Sie die Rassismusstrafnorm schützen (Art. 261bis Strafgesetzbuch StGB). Weitere spezifische Rechtsmittel – wie sie etwa das Gleichstellungsgesetz bei sexueller Belästigung vorsieht – gibt es aber nicht.

Sich gegen Diskriminierung zu wehren, ist schwierig genug. Noch schwieriger macht es die Kündigungsfreiheit der Arbeitgeber. Trotzdem: Wenn Ihnen aus diskriminierenden Gründen gekündigt wird oder weil Sie sich gewehrt haben, ist die Kündigung missbräuchlich (Art. 336 Abs. 1 Bst. a-b OR). Denn dies verletzt den Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 2 Zivilgesetzbuch ZGB, Art. 5 Bundesverfassung BV).

Für Betroffene: Wie reagieren

Patient*innen können gestresst sein, vielleicht haben sie Angst, manche Heimbewohner*innen sind dement. Als Pflegende*r wollen Sie dafür Verständnis haben und Rücksicht nehmen.

Würden Sie nicht rassistisch diskriminiert, sondern sexuell belästigt, würden Sie vielleicht «Verstehen Sie keinen Spass, Schwester?» zur Hand nehmen. Den gut 50-seitigen Leitfaden zum Schutz vor sexueller Belästigung entwickelte der SBK, nachdem 2008 eine Studie des Eidgenössischen Gleichstellungsbüros und des Seco das Ausmass sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – und insbesondere an jenen im Gesundheitswesen – sichtbar machte.

Ein Leitfaden zum Schutz vor rassistischer Diskriminierung ist beim SBK aus Kapazitätsgründen nicht geplant. Die Ratschläge aus «Verstehen Sie keinen Spass, Schwester?» eignen sich aber auch für rassistische Übergriffe. So empfiehlt der Leitfaden, Grenzen zu setzen – «Stopp!», «Nein!», «Schluss jetzt!» – und zu sagen, was Sie wollen – «Hören Sie mit diesen Sprüchen auf!», «Das will ich nie wieder hören!». Fühlen Sie sich nicht in der Lage, sofort zu reagieren, sollten Sie das Zimmer verlassen, um sich zu sammeln und bei einem Kollegen oder einer Kollegin oder der Leitung Unterstützung zu holen. Wie bei sexueller Belästigung hilft es, wenn Sie Protokoll führen: Was passierte, wann und im Beisein von wem?

Für Betroffene: Wie thematisieren

Beratungsstellen raten normalerweise: Suchen Sie das Gespräch mit Ihrer oder Ihrem Vorgesetzten. Wenn dies die Situation nicht verbessert, können Sie auf das HR zugehen. Nützt auch dies nichts, könnte die Beratungsstelle von Ihrem Arbeitgeber zum Beispiel eine Stellungnahme einfordern oder eine Mediation durchführen.

Ein Pflegender eines Heims etwa schrieb 2020 zusammen mit einer Beratungsstelle einen Brief an seinen Arbeitgeber. Ein Bewohner hatte sich nicht von ihm betreuen lassen wollen. Die Verantwortlichen rechtfertigten sich und entschuldigten sich nur halbwegs. Der Pflegende kündigte schliesslich. In einem anderen Fall habe es von einem Spital geheissen: Der Vorfall sei auf organisatorische Fehler und ein sprachliches Missverständnis zurückzuführen.

Unternehmen beteuerten oft, Rassismus nicht zu tolerieren. Konkrete Fälle aber nähmen sie zu wenig ernst und machten sie zu einer «Ausnahme», sagt Reimann von der EKR. So würden institutionelle und strukturelle Aspekte von Rassismus ausgeblendet.

Für Betroffene: Wie rechtlich dagegen vorgehen

Im Sommer 2022 gab das Bundesgericht einem Mitarbeiter einer Uhrenfirma Recht. Er war von einem Kollegen rassistisch gemobbt worden, die Arbeitgeberin unternahm nichts dagegen. Wegen des psychischen Drucks konnte der Mann mehrere Monate lang nicht arbeiten, schliesslich erhielt er die Kündigung. Diese sei missbräuchlich gewesen, urteilte das Bundesgericht und bestätigte den Entscheid des Waadtländer Kantonsgerichts. Das Unternehmen habe seine Fürsorgepflicht nicht eingehalten. Statt Massnahmen zu treffen, um das Mobbing zu verhindern, habe es die krankheitsbedingte Abwesenheit als Grund genommen, um ihm zu kündigen. Die Uhrenfirma musste ihm fünf Monatslöhne zahlen. Dies ist laut Reimann eine der wenigen Rechtsprechungen zu Rassismus am Arbeitsplatz.

Ein Grund dafür ist, dass die Rassismusstrafnorm nur öffentliche Äusserungen unter Strafe stellt. Der Arbeitsplatz fällt oft nicht darunter, etwa wenn, wie in der Pflege, nur zwei Menschen im Raum sind. Öffentlich wäre eine Aussage erst dann, wenn in einem Zimmer Personen die rassistische Äusserung mithören können, die nicht in einem Vertrauensverhältnis zur äussernden Person stehen, wie das Schweizerische Rote Kreuz 2007 in einer Broschüre erklärte.

Unter diesen Bedingungen bleibt Ihnen das Zivilrecht. Diese Verfahren sind kompliziert und aufwendig, Sie brauchen eine Anwältin und Geld. Im Zivilrecht muss nicht Ihr Arbeitgeber beweisen, dass er seinen Pflichten nachkommt. Sondern Sie als diskriminierte Person müssen beweisen, dass er seine Pflichten verletzt, also dass er Ihnen gekündigt hat, weil Sie sich gegen rassistische Diskriminierung gewehrt haben. In Deutschland etwa ist die Beweislast umgekehrt. Dass der zivilrechtliche Diskriminierungsschutz in der Schweiz unvollständig, kompliziert und zu wenig explizit ist und anderen europäischen Ländern hinterherhinkt, zeigte 2015 auch eine Studie des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte. Gerade das Arbeitsrecht gilt offenbar als Bereich, der nur sehr wenige Regelungen zum Diskriminierungsschutz enthält.

In der Theorie, sagt Reimann, sei der Diskriminierungsschutz immerhin teilweise gegeben. Ihn einzuklagen und durchzusetzen, sei aber fast unmöglich. Zudem schaue meist weniger heraus, als Sie in ein Zivilverfahren reinstecken müssen. Wenn Sie jetzt sagen: Ich lasse es sein, dann entscheiden Sie so, wie das viele tun.

Für Kolleg*innen und Vorgesetze: Wie reagieren

Nun kann es sein, dass Sie selbst nicht rassistisch diskriminiert werden, aber Ihnen zu Ohren gekommen ist, dass jemand im Team dies immer wieder erlebt. Was tun Sie? Die Verantwortung tragen die Vorgesetzten, doch auch als Kolleg*in können Sie ein offenes Ohr sowie Ihre Unterstützung anbieten und sich solidarisch zeigen.

Eine Pflegende wurde in einem Heim von Bewohner*innen aufgrund von Hautfarbe, Herkunft und Akzent beleidigt. Von ihren Vorgesetzten bekam sie keinen Rückhalt. Rassismus, sagt Vega vom Beratungsnetz für Rassismusopfer, wirkt sich auf die Menschen unterschiedlich aus. In ihrem Fall liessen die Leistungen der Pflegenden nach. Sie würden jetzt vielleicht sehen, woran das liegen könnte. In diesem Fall aber wurde der Vertrag der Pflegenden nicht verlängert.

Nun soll es Vorgesetzte geben, die den Vorfall verharmlosen und kaum Verständnis zeigen. Die sagen: «Das ist normal, da musst du durch», «Das war bestimmt nicht so gemeint» oder «Sei nicht so empfindlich». Die versuchen, wenn die Person sich weiterhin wehrt, sie zu disziplinieren und in ihr eine «mühsame» oder «nicht kooperative» Mitarbeiterin sehen. Ein bekanntes Beispiel für diesen – nicht nur bei Rassismus wirkenden – Mechanismus ist der Fall der vom Berner Inselspital entlassenen Oberärztin Natalie Urwyler. Sie hatte sich für mehr Mutterschutz und Gleichstellung eingesetzt.

Und was tun Sie als Vorgesetzte*r? Hören Sie genau zu, was die betroffene Person erlebt, und suchen Sie mit ihr nach Lösungen. Sie können etwa organisieren, dass sie die problematische(n) Person(en) nicht mehr pflegen muss. Thematisieren Sie den Vorfall zudem mit den betroffenen Patient*innen und weisen Sie sie auf die Hausordnung hin, gemäss denen Rassismus nicht toleriert wird, weder von Mitarbeitenden und Vorgesetzten noch von Patient*innen (oder aktualisieren Sie erst mal die Hausordnung).

Für Vorgesetzte: Wie vorbereitet sein

Als Vorgesetzte*r möchten Sie vielleicht nicht erst reagieren, wenn eine rassistische Diskriminierung bereits passiert ist. Vielleicht möchten Sie schon im Voraus dafür sorgen, dass es gar nicht dazu kommt – selbst wenn Sie im stressigen Arbeitsalltag in einer Branche, die in der Krise ist, kaum Zeit dafür finden. Denn es ist wichtig, bei rassistischen Vorfällen einem institutionalisierten Vorgehen zu folgen.

Stellen Sie sich folgende Fragen:

  • Leben wir unser Leitbild – Sätze etwa wie «Wir achten die Persönlichkeit der Mitarbeitenden und Patient*innen» – wirklich?
  • Haben der Betrieb und die Teams ein Bewusstsein dafür, dass und wie Rassismus bei uns ein Thema sein kann und wie seine Auswirkungen aussehen können?
  • Werden die Urheber*innen rassistischer Übergriffe sanktioniert?
  • Haben die Pflegenden die Möglichkeit, Patient*innen abzulehnen?
  • Dürfen Pflegende übergriffige Patient*innen zu zweit pflegen?
  • Haben wir Strukturen, die es den Mitarbeitenden ermöglichen, ihr Unwohlsein zu melden?
  • Wie können wir Mitarbeitende, die Rassismus erleben, unterstützen?

Falls Sie nach Inspiration suchen: Gemäss der SBK-Zeitschrift «Krankenpflege» (2022) gibt es beim Universitätsspital Genf eine Hotline für Fälle von Belästigung oder beim CHUV in Lausanne eine Anlaufstelle für Mitarbeitende. Die Solothurner Spitäler haben eine Ansprechperson bei rassistischer Diskriminierung definiert und organisieren Sensibilisierungstage zu Rassismus.

Bisher, so schliessen die Autor*innen der neuen Grundlagenstudie zur strukturellem Rassismus in der Schweiz, werde mit Informationen und Sensibilisierungen vor allem versucht, die Haltung von Personen zu verändern oder Betroffene zu unterstützen. Das sei nicht falsch, aber reiche nicht aus. «Soll der Schutz vor rassistischer Diskriminierung nachhaltig verankert und umgesetzt werden, braucht es einen kritischen Blick auf unsere Strukturen und Institutionen.» Es brauche Stellen und Personen mit Wissen und Ressourcen, die institutionelle Massnahmen anstossen und umsetzen können.

Wurden Sie rassistisch diskriminiert? Unterstützung finden Sie hier: