Die Unsichtbaren: Eine Gesellschaftsanalyse
Es gibt einen Wandel hin zu neo-feudalen Strukturen. Sichtbar ist er in der Arbeitswelt. Während eine berufliche Tätigkeit in der Regel gesellschaftlich anerkannt ist und als wertvoll gilt, haben «unsichtbare» Arbeiten kein Sozialprestige und werden schlecht vergütet.
Ein oder zwei Klicks, ein Telefonat, ein Formular auf einer Online-Börse, und schon haben wir die Pizza im Haus, ein Buch, eine Reinigungskraft, eine Nanny, einen Hundesitter oder eine Rundumbetreuung für unsere erkrankten Eltern – und können so Arbeiten abgeben, für die wir keine Zeit haben oder die wir nicht selber verrichten möchten.
Tatsächlich lagern wir, als Einzelne und als Gesellschaft, immer mehr Tätigkeiten an andere aus. Dieses Phänomen geht häufig damit einher, dass jene, welche diese ausgelagerten Arbeiten ausführen, unsichtbar bleiben – sei es, weil sie Schwarzarbeit verrichten, weil sie in Privathaushalten oder zu Randzeiten arbeiten.
Diese unterschiedlichen Facetten waren für uns Anlass, im Rahmen der achtteiligen Serie «Die Unsichtbaren» drei Fragen nachzugehen: Wieso schieben wir immer mehr Arbeiten ab; wer sind die Leute, welche diese ausgelagerten Arbeiten verrichten; und was macht das mit unserer Gesellschaft? Bedeutet das: Sind wir auf dem Weg zu einer neuen Dienerschaft? Folgende Einsichten haben sich aus unseren Recherchen ergeben.
Zeit ist Geld
Wer Arbeiten auslagert, die sie oder er selber verrichten könnte – Putzen zum Beispiel, Einkaufen oder sich um jemanden Kümmern –, tut dies meist, um Zeit zu sparen. Es ist dies Zeit, welche die betreffende Person anderweitig einsetzen kann: um sich zu erholen, um ihr Privatleben zu pflegen, um ihren Hobbys nachzugehen oder schlicht, um (noch mehr) zu arbeiten. Letzteres ist, das belegen Studien, sehr häufig der Fall. Dafür gibt es verschiedene Gründe, sie reichen von Prestige bis Überforderung. Ein anderer besteht darin, dass wir es zunehmend mit Formen der «entgrenzten Arbeit» zu tun haben: Immer mehr Menschen arbeiten von zuhause aus oder haben flexible Arbeitszeiten. Was aber nicht bedeutet, dass sie dadurch mehr Zeit zur Verfügung hätten, im Gegenteil.
Offenbar führt diese Flexibilität dazu, dass sie sich allzeit bereithalten müssen, quasi in einer Art Pikettdienst stehen (wie Gig-Worker; Surprise 535). Entsprechend verwischen sich Arbeitsund Lebenswelten bzw. sie müssen neu ausbalanciert werden (dafür gibt es das Modewort «Work-Life-Balance»). Der «flexible Mensch» wird so paradoxerweise zu einem, der infolge seiner permanenten Verfügbarkeit immerzu eingespannt ist, kaum Ressourcen hat und ständig in Zeitnot ist (1). Möglichst alle Arbeiten zu delegieren, was ihm Zeit verschafft, wird unter solchen Bedingungen gewissermassen zur Notwendigkeit.
Ungleiche Wertigkeit
Und doch bleibt ein Gefälle, und das hat auch strukturelle Gründe: In den allermeisten Fällen werden Arbeiten ausgelagert, von denen man glaubt, sie seien weniger wert als jene Arbeiten, mit denen man sein eigentliches Geld verdient. Ob dies tatsächlich durchwegs der Fall ist – etwa wirtschaftlich gesehen –, ist fragwürdig. So oder so widerspiegelt sich die ungleiche Wertigkeit der Arbeit auch in ihrer Entlöhnung: Ausgelagerte, zumal unsichtbare Jobs sind in aller Regel ungleich schlechter bezahlt als jene Arbeiten, um derentwillen sie ausgelagert werden. Wäre es andersherum, hätten vermutlich nur Superreiche und Adelige überhaupt die Möglichkeit, Arbeiten zu delegieren.
Prekäre Arbeitsbedingungen
Zwar ist es nicht so, dass ausgelagerte sowie unsichtbare Arbeiten grundsätzlich unter prekären Bedingungen verrichtet werden – unser Porträt eines Angestellten in einer Kläranlage ist dafür ein Gegenbeispiel (siehe Surprise 526). Dennoch gilt für die meisten Fälle, dass derlei Arbeiten nur deswegen so leicht und günstig zu haben sind, weil sie prekär sind. Damit verbunden sind zwei Punkte, die abermals strukturelle Probleme betreffen: Erstens werden ausgelagerte Arbeiten auch deshalb so breit in Anspruch genommen, weil es nicht genügend Alternativen gibt; das heisst, es fehlen Angebote, die nicht nur fair ausgestaltet, sondern für eine Mehrheit auch bezahlbar sind. An einem Beispiel gezeigt: Solange Altersheime bis 10 000 Franken pro Monat kosten, ist eine 24-Stunden-Care-Betreuung aus Osteuropa für 3200 Franken oder weniger für viele eine echte, weil überhaupt erst erschwingliche Alternative. Was wäre zu tun? Die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja sagte dazu im Interview: «Der Staat müsste hier mehr Angebote zur Verfügung stellen – Pflegeheime, Kitaplätze etc. – oder bestehende besser unterstützen» (Surprise 524).
Zweitens werden viele der ausgelagerten, prekären Arbeiten in der Schweiz von Migrant*innen verrichtet; davon sind rund zwei Drittel Frauen (Surprise 522 und 537). Es handelt sich hierbei demnach um Tätigkeiten, die aufgrund von geringem Lohn und niedrigem Ansehen für Schweizer*innen kaum von Interesse sind – bisher jedenfalls. So dringend das politische Bemühen sein mag, die Bedingungen für ausgelagerte Arbeiten zu regulieren – nicht immer sind solche Kämpfe auch im Sinne derer, welche diese Arbeiten ausführen müssen. Auch hierzu ein Beispiel: Im Porträt über einen Erntehelfer aus Polen äussert dieser die Befürchtung, dass die Feldarbeit auch für Schweizer*innen an Attraktivität gewinnen könnte, sobald sie angemessen entlöhnt wird – was aus seiner Sicht darauf hinausläuft, dass seine eigenen Chancen auf den Job sinken.
Soziale Identität und Vereinsamung
Wer unsichtbare Arbeit verrichtet, versteckt sich – oder wird versteckt. Auch dafür gibt viele Gründe. Personen zum Beispiel, die schwarz angestellt sind, haben selbstverständlich kein Interesse, über den engen Kreis von Vertrauten hinaus ihre Arbeit zu thematisieren, was bedeutet: als Arbeitende kommen sie im Grunde gar nicht vor. Das betrifft nicht bloss die Schwarzarbeit, sondern auch Tätigkeiten, die typischerweise zu Randzeiten gemacht werden (Reinigungsarbeiten; Surprise 522), oder quasi hinter verschlossenen Türen (Küchendienst in Kantinen; Surprise 537), im Privathaushalt (Care-Arbeit, Kinderbetreuung; Surprise 524 und 528) oder weit weg von den Zentren gesellschaftlichen Treibens (Erntehilfe; Seite 8). Unter diesen Umständen reden viele, die ausgelagerte, unsichtbare Arbeiten verrichten, von Vereinsamung, was kaum erstaunt: Wer einer Arbeit nachgeht, die in der öffentlichen Sphäre verrichtet wird und gesellschaftlich anerkannt ist, erhält dadurch unzweifelhaft eine soziale Existenz und Identität. Die betreffende Person ist eingegliedert in ein Netz von Beziehungen, wo sie sich (weit über die Arbeit hinaus) austauschen kann. Natürlich ist die Arbeitswelt dafür nicht der einzige Ort. Doch sie ist unzweifelhaft eine jener Welten, die prägend sind für unsere soziale Eingliederung. Fällt sie weg, muss sie kompensiert werden– oder es besteht die Gefahr, dass Unsichtbarkeit zu sozialer Isolation führt.
Geld über alles
Sieht man einmal elitären Kreisen ab, so wurden viele der heute ausgelagerten Arbeiten früher selbst verrichtet – die meisten übrigens ohne Lohn. Man denke an Haushaltsund Betreuungsarbeiten oder an die Selbstversorgung. Niemand will das Rad der Zeit zurückdrehen, zumal viele dieser Arbeiten von Frauen verrichtet werden mussten. Sie wurden dadurch in soziale Rollen gedrängt («die Hausfrau», «die Fürsorgende»), die sie nachhaltig diskriminiert haben – und bis heute diskriminieren. Dennoch stellt sich die Frage, ob es der richtige Weg ist, alle Formen der Auslagerung wiederum zu «verökonomisieren». 2 Offensichtlich ist dies bei der Fürsorge: Wird sie rein ökonomisch definiert und als kapitalistische Dienstleistung organisiert, unterliegt sie gleichermassen dem neoliberalen Diktat von Angebot und Nachfrage, von Effektivität, Nutzen und Zeitersparnis. Damit wird die Sorge-Verantwortung aus dem Sozialen herausgenommen und ins Privatwirtschaftliche geschoben – dies ist die These der Soziologin Sarah Schilliger (Surprise 524). Für sie läuft die Monetarisierung von Tätigkeiten, die heute ausgelagert werden, am Ende wiederum auf deren Abwertung hinaus. Stattdessen schlägt sie vor, Arbeitsund Lebenswelten neu zu denken – und zwar so, dass wir genügend Zeit haben für die Aufgaben, die mit unserem Lebensstil einhergehen, und dass wir «ohne Angst vor Erschöpfung, Armut und Renteneinbussen» für uns selbst und andere sorgen können.
1 Eine eindringliche Studie über den flexiblen Menschen liefert Richard Sennett, «Der flexible Mensch» (Berlin 1998).
2 Der Ausdruck stammt von André Gorz; er hat mit seiner «Kritik der ökonomischen Vernunft» (1988) ein wegweisendes Buch über die Auflösung der Trennung von Leben und Arbeit verfasst.