Digitalisierung: Auf Schritt und Tritt verfolgt
Menschen, die sich über nationale Grenzen bewegen, werden immer stärker digital überwacht. Ihre Smartphones werden durchleuchtet, ihre Lebensgeschichte landet in Migrationsdossiers und ihre Daten werden im ganzen Schengenraum ausgetauscht.
Menschen, die sich über nationale Grenzen bewegen, werden immer stärker digital überwacht. Ihre Smartphones werden durchleuchtet, ihre Lebensgeschichte landet in Migrationsdossiers und ihre Daten werden im ganzen Schengenraum ausgetauscht.
Zwei Millionen Dossiers. Eines für jede ausländische Person, die in der Schweiz lebt. So viele sogenannte Migrationsdossiers sind bei den kantonalen Migrationsämtern angelegt. Darin findet sich fast alles, was die Schweizer Behörden über die ausländische Bevölkerung weiss.
Manche dieser Dossiers sind dünn und kaum brisant: ein Geburtsschein, ein Betreibungsregisterauszug, Name und Geburtsdatum. Andere sind hunderte Seiten dick. In ihnen finden sich Polizeirapporte, Gesprächsprotokolle oder Informationen über Familienmitglieder. Auch höchst intime Details – wie Liebesbriefe oder Informationen über die eigene Sexualität – werden abgespeichert. Das fand das unabhängige Recherchekollektiv «Reflekt» zusammen mit dem «Beobachter» im letzten Jahr heraus.
Auf unbestimmte Zeit fichiert
Solche Dossiers gibt es schon seit Jahrzehnten. Früher wurden sie noch auf Papier angelegt und in Aktenschränken aufbewahrt. Wer Zugang zu Informationen wollte, musste das Telefon in die Hand nehmen oder persönlich vorbeigehen. Heute lässt sich der Inhalt in vielen Kantonen digital abfragen und sogar nach Stichworten durchsuchen. Das macht es für die Behörden viel einfacher, Informationen über Ausländer*innen zu beschaffen – und neue Informationen zu den Dossiers hinzuzufügen.
Das Resultat: Täglich gehen mehr als 100 000 Anfragen im System ein. Denn eine ganze Reihe von Behörden hat Zugriff auf die Migrationsdossiers: Nebst den kantonalen Migrationsund Zivilstandsämtern sind das auch das Staatssekretariat für Migration (SEM), die Kantonspolizei, das Grenzwachtkorps, die Bundespolizei (Fedpol) sowie der Nachrichtendienst des Bundes (NDB). Dabei können die Staatsangestellten nicht nur auf Informationen zurückgreifen, die von Gesetzes wegen gespeichert werden müssen, wie etwa der Bezug von Sozialleistungen, Straftaten oder schulische Disziplinarmassnahmen. Oft erhalten sie auch Einblick in Daten, die eigentlich nicht gesammelt werden müssten: Scheidungsakten, Verkehrsbussen – oder eben Liebesbriefe, die niemanden etwas angehen.
Das Problem: Eine systematische Übersicht und Analyse dessen, was die Schweizer Behörden über die ausländische Bevölkerung genau wissen und abspeichern, gibt es nicht. Denn eine Datenauskunft müssen Betroffene selber beantragen – ein Recht, das ihnen gesetzlich zusteht, sie aber nur selten einfordern. Um mehr Licht ins Dunkel zu bringen, wollte Surprise gemeinsam mit Betroffenen Einsichtsgesuche stellen. Doch viele fürchteten sich vor den Konsequenzen bei den Migrationsbehörden. Das veranschaulicht den sogenannten Chilling-Effect der datafizierten Migrationsüberwachung. Obwohl Betroffene ein Recht auf Transparenz und Auskunft hätten, machen sie davon nicht Gebrauch. Es könnte ja eine weitere Notiz in den Akten landen, die dann womöglich bis zum Lebensende gespeichert bleibt und Folgen bei der nächsten Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung hat.
Denn die Migrationsdossiers bleiben bei Menschen ohne Schweizer Pass bis zum Lebensende in den digitalen Aktenschränken liegen – und werden auch gegen sie verwendet. 2020 entschied zum Beispiel das Zürcher Verwaltungsgericht, dass die Aufenthaltsbewilligung eines Mannes nicht verlängert wird; der Grund war unter anderem eine 20 Jahre alte Strafverfügung wegen «Diebstahls im Verkaufsladen».
Selbst wer sich einbürgern lässt oder das Land verlässt, bleibt noch Jahrzehnte lang fichiert. Viele Kantone haben eine Löschfrist von zehn Jahren, andere gar keine. Ein Recht auf Vergessenwerden – im Strafregister werden Einträge nach einer bestimmten Zeit restlos gelöscht – gibt es für fichierte Ausländer*innen offenbar nicht.
Kein Recht auf Privatsphäre
Dass die Privatsphäre von Menschen aus dem Ausland kaum etwas wert ist, zeigt sich bereits beim Grenzübertritt. 2017 führte das SEM ein Pilotprojekt durch: Um die Identität, Herkunft und Reiseroute von Asylbewerber*innen zu ermitteln, wertete es die Daten auf deren Smartphones und Laptops aus.
Das SEM weiss dabei genau wie wir alle, welch interessanten und höchst persönlichen Informationen auf den Geräten gespeichert sind: Bilder vom eigenen Zuhause, von der Flucht, der Familie, Telefonnummern von Bekannten und Helfer*innen, Scans von Dokumenten, Sprachnachrichten und vieles mehr.
Im sechsmonatigen Pilotprojekt wollte das SEM herausfinden, ob sich mit diesem tiefen Blick ins private Leben für den Asylprozess interessante Informationen extrahieren lassen. Konkret wertete das SEM zwischen November 2017 und Mai 2018 in den Bundesasylzentren Chiasso und Vallorbe die Datenträger von 574 Menschen aus. Und wurde, wenig überraschend, fündig: Bei 42 davon fand man Hinweise auf die Identität der Person, weitere 19 gaben Informationen über das Herkunftsland preis und 24 über die Reiseroute. Für das SEM ein Erfolg. Immerhin konnte in 15 Prozent der Fälle Informationen beschafft werden – ein «signifikanter Mehrwert» für die Verfahren, wie es im offiziellen Bericht heisst.
Das Projekt fiel nicht vom Himmel. Im März zuvor reichte SVP-Nationalrat Gregor Rutz eine parlamentarische Initiative ein, die von Geflüchteten forderte, Einsicht in ihre Handydaten zu liefern. 2021 folgte das Parlament dem Anliegen – auch mit Verweis auf die Ergebnisse des Pilotprojekts. Dass dessen Aussagekraft nicht besonders gross war, musste zwar selbst der Bundesrat eingestehen. Die «Wirksamkeit und Geeignetheit» der Auswertung von Datenträgern im Asylprozess könne «zum heutigen Zeitpunkt nicht abschliessend beurteilt werden», hiess es 2021.
Interessiert hat das aber nicht. Auch andere Kritik an der Praxis blieb ungehört. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) sprach bei der Auswertung von Handydaten von einer «rechtsstaatlich höchst bedenklichen» Massnahme. Selbst in Strafverfahren würde der Zugang zu Datenträgern restriktiver gehandhabt. Fazit: Die Privatsphäre von Asylbewerber*innen ist weniger wert als jene von mutmasslichen Straftäter*innen. «Nur weil man nichts zu verbergen hat, darf der Staat doch nicht alles von einem wissen», kritisierte die SFH. «Asylsuchende müssen im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht zwar alle für das Verfahren relevanten Informationen offenlegen – nicht aber sämtliche höchst persönlichen, sensiblen und schützenswerten Daten.»
Diese Einschätzung teilte auch das UNHCR und zweifelte zudem an der Aussagekraft der Massnahme. «Handys können bei einer Flucht über einen langen Zeitraum von mehreren Personen verwendet werden», schrieb es im Zuge der Gesetzesrevision. «Auch von Schleppern. Ferner können elektronische Beweismittel leicht verändert oder vernichtet werden.» Evaluationen in Deutschland hätten gezeigt, dass der Nutzen im Verhältnis zum Aufwand eher gering sei. Tatsächlich rechnet der Bundesrat aufgrund der Einführung der Massnahme mit beträchtlichem Mehraufwand: Jeder einzelne Fall sei «relativ aufwändig» und es sei davon auszugehen, dass zusätzliches Personal benötigt werde, schreibt der Bundesrat in einem Bericht zum Gesetz. Pro Tag dürften bald mehr als 30 Auswertungen durchgeführt werden, rechnete das SEM vor. Somit würden pro Jahr über 8000 Menschen bis in alle digitalen Winkel durchleuchtet.
Für die Digitale Gesellschaft Schweiz bedeutet diese Massnahme einen «schweren Eingriff in das Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre». Solche Eingriffe liessen sich nur mit gravierenden Gründen und mit verhältnismässigen Mitteln rechtfertigen – weder das eine noch das andere stellt die Digitale Gesellschaft fest. «Eine hinreichende Risikound Folgenabschätzung wurde augenscheinlich nicht vorgenommen», schreibt der Verein in seiner Vernehmlassungsantwort zum Gesetzesentwurf. «Für den geplanten schweren Grundrechtseingriff wären indes detaillierte, vertiefte Abklärungen und Erläuterungen zwingend, um überzeugend darlegen zu können, wie den verschiedenen Problemen und Fragen hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit, Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre, Verhältnismässigkeit und Datenschutz tatsächlich Rechnung getragen werden muss.» Trotz Kritik wird das Gesetz noch in diesem Jahr in Kraft treten.
Mit dieser behördlichen Überwachungsmanie gegenüber jenen, die eine Grenze in ein anderes Land überschreiten, ist die Schweiz nicht allein. Sie passt zum massiven Ausbau des Schengener Informationssystem (SIS), an dem die Schweiz ebenfalls beteiligt ist. Das SIS dient den Behörden im Schengenraum beim Informationsaustausch in den Bereichen «Sicherheit und Grenzmanagement». Insbesondere können Polizei und Grenzschutz nach Menschen und Gegenständen – Autos, Waffen, Dokumenten – im ganzen Schengenraum fahnden.
Die grosse digitale Suche
Im Grunde ist das SIS ein gigantisches digitales Pinboard, wo unterschiedliche Behörden sogenannte «Ausschreibungen» abspeichern. Darin enthalten sind Informationen über Personen oder Gegenstände – zum Beispiel, wenn ein Haftbefehl gegen eine Person vorliegt, es eine Einreiseverweigerung gibt oder ein Auto oder Nummernschild beschlagnahmt werden soll. Im System finden sich aber auch biometrische Daten – Fingerabdrücke und Gesichtsbilder – von sogenannten «Drittstaatenangehörigen», die in ihr Herkunftsland zurückkehren müssen.
Zuletzt fanden sich auf dieser digitalen Fahndungsliste über 86 Millionen Gegenstände und Informationen von über einer Million Menschen. Nach ihnen suchen Grenzbeamte an Grenzübergängen und Flughäfen. Und das nicht zu selten. Im letzten Jahr gingen 12,7 Milliarden Abfragen im System ein – 82 Prozent mehr als im Vorjahr und 91 Prozent mehr als vor Pandemiebeginn.
Das reicht dem europäischen Grenzschutzregime offenbar noch nicht. 2023 wurde das System nochmals massiv ausgebaut und der Kreis der Zugriffsberechtigten erweitert. Darüber hinaus wird es mit der europäischen Fingerabdruckdatenbank Eurodac, der Visumsdatenbank und dem europäischen Strafregister ECRIS verknüpft. Auch ein noch zu entwickelndes Entry-/Exit-System, das alle Grenzübertritte von Nicht-EU-Bürger*innen registriert, wird ins SIS eingebettet. So soll ein «gemeinsamer Identitätsspeicher» für den Schengenraum entstehen, in dem Informationen über sämtliche Bürger*innen gespeichert sind – alles schön organisiert und durchsuchbar. Damit ja kein Grenzübertritt und keine Bewegung unerfasst bleibt.