Digitalisierung: Zum Surfen in die Migros

Die Digitalisierung ist eine Welt der Grauzonen – auch für Sans-Papiers wie Ackson. Während er in der analogen Öffentlichkeit ausgegrenzt ist, kann er die digitale Welt auch zur Erweiterung seiner Handlungsspielräume nutzen.

19.05.2023TEXT: FLORIAN WÜSTHOLZ, ILLUSTRATIONEN: TIMO LENZEN
Digitalisierung: Zum Surfen in die Migros

Digitalisierung: Zum Surfen in die Migros

An Acksons Handgelenk blinkt eine Fitnessuhr. Schwarz und schlank sieht sie aus und zeichnet seinen Puls auf, zählt die Anzahl seiner Schritte, registriert Schlafqualität und Sauerstoffsättigung im Blut. Aus jeder Hosentasche zieht der 33-Jährige ein Smartphone und legt es auf den Tisch. «Das hier ist für den Alltag», erklärt er und zeigt auf ein abgewetztes Samsung. «Das andere benutze ich nur für die wichtigsten Sachen.»

Menschen wie Ackson müssen in der analogen Welt unsichtbar bleiben. Als Sans-Papiers leben sie illegalisiert unter uns, verrichten Arbeit, kaufen wie wir ein, fahren Tram und bleiben doch ausgegrenzt. Denn ohne Aufenthaltspapiere haben sie im Normalfall keine Wohnadresse und schon gar keine Arbeitsbewilligung. Bereits eine SIMKarte fürs Smartphone müssen sie sich über Umwege oder Bekannte organisieren. Für sie ist Teilhabe an unserer Gesellschaft von Gesetzes wegen nicht vorgesehen. Hier sind sie trotzdem, sie leben und arbeiten.

Ich frage mich: Wie verändert sich das Leben im Unsichtbaren, wenn immer mehr Teile der Öffentlichkeit in den digitalen Raum abwandern?

In der Annahme, Sans-Papiers hätten es auch schwer, digital in Erscheinung zu treten, hatte ich mir ein kleines Experiment vorgenommen. Ich wollte versuchen zu erleben, wie der Alltag aussieht, wenn man keinen Zugang zur digitalen Öffentlichkeit hat – immer im Wissen, dass im Notfall in der Hosentasche mein Smartphone steckt, das mir aus fast jeder Patsche hilft.

Unser Treffen in Basel hatten wir natürlich über einen digitalen Messenger ausgemacht – aber lassen wir das mal beiseite. Schon nach dem Aufstehen am Morgen stellte sich mir die Frage, wie ich eigentlich nach Basel komme. Normalerweise würde ich die SBB-App öffnen und die schnellste Verbindung ausfindig machen. Zum Glück

weiss ich ungefähr, wann in Bern die Züge fahren. Am Bahnhof angekommen, gab es zur genaueren Information nebst den gelben Abfahrtsplänen auch praktische digitale Anzeigetafeln.

Nun galt es, ein Ticket zu lösen – eben nicht in der SBB-App und nicht am Ticketautomaten, die ohnehin bald abgeschafft werden (siehe Surprise Nr. 548), und nur mit Bargeld. Denn für Sans-Papiers ist bereits der Besitz einer Bankkarte fast immer ein Ding der Unmöglichkeit. Ohne Aufenthaltspapiere oder legale Wohnadresse gibt es auch kein Bankkonto. Also musste ich an den Schalter. Das bedeutet anstehen und warten. Zum Glück war ich früh genug am Bahnhof und hatte eine Zeitung im Rucksack.

Nach dem Ticketkauf am Schalter musste ich noch schnell aufs WC und war glücklich, nicht in Luzern oder Uster zu sein. Dort experimentiert die SBB aktuell nämlich mit bargeldlosen Zugängen zu den Bahnhofstoiletten. Im Sinne der Einfachheit und Hygiene funktioniert in einigen Städten der Zutritt zum Bahnhofs-WC nur noch mit Karte oder einer Bezahl-App. Wer das nicht besitzt, hat Pech.

In Basel angekommen, stellte sich mir die nächste Frage: Wie finde ich zu unserem Treffpunkt? Ich bin selten am Rheinknie und finde ohne Karten-App höchstens den Barfüsserplatz und einen mir bekannten veganen Kebabladen. Aber wo ist die Rebgasse? Um das herauszufinden, genügt normalerweise ein Griff zum Smartphone. Ich würde die Adresse der Anlaufstelle für Sans-Papiers eingeben. Die App würde dank GPS automatisch meinen aktuellen Standort erkennen und mir in Nullkommanichts den besten Weg aufzeigen – falls gewünscht auch gleich noch über die Kopfhörer mit freundlich gesprochener Navigationsstimme.

Stattdessen hatte ich mich – mit digitalen Kartendiensten – vorbereitet und mir den Weg eingeprägt: Erst mit dem 8er-Tram zum Claraplatz und dann noch ein paar Meter zu Fuss. Ich lief zur Haltestelle. Mist, ein Ticket fürs Tram brauchte ich auch noch. So zückte ich in der Not doch meine Bankkarte für den Ticketautomaten. Ich war spät dran – und ein Verstoss gegen die Regeln meines Experiments immer noch besser als eine Busse.

Als ich schliesslich vor Ackson mit seiner Fitnessuhr und seinen zwei Smartphones sitze, komme ich mir mit meinem Experiment ziemlich albern vor. Denn der gelernte Elektriker aus Brasilien ist, was man einen Digital Native nennt. «Das Internet ist für mich extrem wichtig», erzählt er lächelnd, als ich ihn frage, wie sein Leben in der digitalen Welt aussieht – und er meine voreiligen Vorstellungen demontiert. «In meiner Kindheit habe ich Internetforen besucht, mich mit anderen online ausgetauscht und mir viele Skills autodidaktisch beigebracht.» In der Schweiz konnte er sich auch dank seiner digitalen Fähigkeiten durchschlagen. Das ganze Brimborium meiner analogen Zugreise hätte er sich kaum angetan.

Und doch: Der schleichende Übergang zu einer bargeldlosen Gesellschaft macht Sans-Papiers wie Ackson zu schaffen. Rechnungen von der Krankenkasse oder vom Arztbesuch kann er nicht bequem per E-Banking bezahlen. «Anfangs ging ich damit zur nächsten Postfiliale», sagt Ackson. «Je nachdem konnte ich dort aber nicht bar bezahlen.» Also nahm er einen weiteren Weg zur grösseren Hauptfiliale auf sich. «Dort hat es oft lange Schlangen. Und die älteren Menschen wollten gerne am Schalter noch etwas plaudern», sagt er. So dauern einfache Dinge, die sich digital mit ein paar Klicks erledigen lassen, schnell mal eine Stunde.

Gerade die Pandemie hat den Wechsel von Bargeldtransaktionen zum digitalen Bezahlen beschleunigt; so konnte man zum Beispiel am Berner Weihnachtsmarkt nur noch mit Karte oder App bezahlen. «Vielerorts wurde das mit Hygiene begründet», sagt Ackson. Er erzählt vom Delica-Fabrikladen in Birsfelden, wo seit einiger Zeit kein Bargeld mehr akzeptiert wird. «Dort gibt es Lebensmittel und Haushaltswaren mit kleineren Defekten zu vergünstigten Preisen.» Für prekarisierte Menschen ein willkommenes Angebot. Blöd nur, wenn diese es nicht mehr nutzen können, weil sie keine digitale Bezahlmöglichkeit haben.

«Für mich und viele andere Menschen ist Bargeld sehr wichtig», sagt Ackson. «Die, die den digitalen Wandel vorantreiben, gehen davon aus, dass doch eh alle ein Konto und eine Karte haben, mit der sie überall bezahlen können. Aber das ist nicht der Fall.»

«Am Fenster konnte ich ins Netz»

Ackson nimmt einen Schluck von seinem Kaffee, lehnt sich ein wenig zurück und erzählt, wie schwierig es bei seiner Ankunft war, mit der Familie in Brasilien in Kontakt zu bleiben. «Ich hatte ja kein Internetanschluss», sagt er. «Also versuchte ich, wenn möglich, öffentliche Wifis zu nutzen.» Gerade als Sans-Papiers ist das eine verzwickte Sache. Denn die Öffentlichkeit ist ein gefährliches Pflaster. Jederzeit drohen Polizeikontrollen, weil rassifizierte junge Männer wie Ackson viel häufiger von der Polizei kontrolliert werden als andere. «Und letztlich wollte ich auch nicht im Migros-Restaurant über private Dinge sprechen.»

Also sucht Ackson nachts nach öffentlichen Wifis, um mehr oder weniger ungestört das Internet nutzen zu können. «Einmal hatte ich das Glück, in der Nähe einer Migros zu wohnen, wo es ein öffentliches Netzwerk gab. Wenn ich ganz nah am Küchenfenster war, konnte ich mich mit dem Internet verbinden.»

Und dann spricht Ackson nochmals seine zwei Smartphones an. Denn weil er was von digitaler Sicherheit, Programmieren und Datenschutz versteht, ist er sich auch der vielen Spuren bewusst, die wir alle im Internet hinterlassen. «Ich hatte immer Angst, zu viel über mich zu veröffentlichen und aufzufliegen», sagt Ackson und erwähnt die gesetzlich vorgeschriebene Vorratsdatenspeicherung. Sie verpflichtet Sunrise, Salt, Swisscom und andere Mobilfunkanbieter, die Verbindungsdaten der Nutzer*innen während sechs Monaten zu speichern. Daraus ist ersichtlich, wo sich eine Person wann aufhielt und mit wem sie Kontakt hatte. Auch die sozialen Medien nutzt Ackson mit Vorsicht. «In Brasilien war ich recht freizügig und habe viel von mir im Internet geteilt», sagt er. «Jetzt muss ich besser aufpassen oder ganz darauf verzichten.» Auf Instagram nutzt er Stories, die nach 24 Stunden wieder verschwinden, oder teilt Beiträge und Bilder lediglich mit ihm nahestehenden Menschen. Als Illegalisierter ist die digitale Gesellschaft für ihn immer auch eine Kartei, die über sein Leben Buch führt – und die gegen ihn verwendet werden kann.

Digitale Selbstverteidigung

Ackson kann digitale Mittel allerdings auch für seine eigene Ermächtigung nutzen. Apps, soziale Netzwerke und digitale Angebote bieten ihm Möglichkeiten, sein Leben als Sans-Papier zu meistern. Dank Apps kann er sich paradoxerweise freier bewegen, obwohl er in der analogen Öffentlichkeit unter dem Radar bleiben muss. Um das zu demonstrieren, zückt Ackson sein Smartphone und öffnet eine App: Waze. Die frei zugängliche Strassenkarten-App unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von den bekannten Alternativen. Bis man auf die überall auf der Karte verteilten Symbole klickt: Strassensperren und -schäden, Bauarbeiten, Umleitungen. Und Polizei. Bei Waze können Nutzer*innen Beobachtungen melden, die für andere während einer gewissen Zeit sichtbar sind.

Jedes Mal, wenn in der Nähe ein kleiner blauer Punkt aufploppt, wissen Ackson oder andere Sans-Papiers, die die App nutzen: Ich suche mir besser einen anderen Weg. «Mit der Zeit lernte ich so auch, welche Orte für mich aufgrund möglicher Polizeikontrollen besonders gefährlich sind», erzählt er. «So konnte ich sie meiden und mich freier bewegen.» Auch in einer Telegramgruppe werden Polizeikontrollen ausgetauscht – angelehnt an Copwatch. Seit über dreissig Jahren überwacht diese autonome, aktivistische Organisation in Nordamerika und Europa Polizeiaktivitäten, um Menschen vor Machtmissbrauch und Racial Profiling zu schützen.

«Das Internet gibt mir Zugang zu einer grossen Gruppe von Menschen, mit denen ich mich austauschen kann und von denen ich hilfreiche Informationen erhalte», sagt Ackson. Zum Beispiel darüber, wo man sich sicher aufhalten kann, wo es Arbeitsmöglichkeiten gibt, wie man sich auch politisch organisieren kann. «Das macht mein Leben als Sans-Papiers in der Schweiz leichter.» So helfen ihm in einer ihm anfänglich fremden Welt auch Übersetzungstools oder Sprachlern-Apps durch den Alltag. Und die Digitalisierung gibt Ackson Instrumente in die Hand, wie er als Illegalisierter dennoch zu Arbeit und Geld kommt. «Vor allem die Gig-Economy ist für mich eine digitale Spielwiese, wo ich mich austoben kann», sagt Ackson und beginnt, all die Dienste und Websites aufzuzählen, mit denen er im digitalen Raum Geld verdienen kann, ohne in der Öffentlichkeit sichtbar zu werden. «Ich könnte als Webdesigner arbeiten, von zuhause aus Games testen oder für Google Marktforschung betreiben.» Es gibt Websites wie Digitalnomads, Remote OK oder Clickworker, dank denen er unkompliziert kleinere Aufträge online erledigen kann. Dass es sich bei der Gig-Economy um einen kaum regulierten Markt handelt – mit Löhnen, mit denen man nur knapp über die Runden kommt –, weiss auch Ackson. Doch paradoxerweise erlaubt ihm gerade diese Grauzone, überhaupt in der Schweiz Geld zu verdienen.

«Manchmal ging ich auch in Geschäfte, die keinen Eintrag auf Google Maps hatten, und bot an, gegen einen kleinen Lohn diese Lücke zu schliessen», sagt Ackson, und sein Erzähldrang ist kaum zu stoppen – so viele Möglichkeiten zählt er auf, dank der digitalen Welt über die Runden zu kommen. «Da siehst du mal, wie viel man im Internet so machen kann», lacht er.

Die Digitalisierung ist für Ackson also Fluch und Segen zugleich. Als Optimist sieht er darin vor allem ein Werkzeug, um sich dort durchzuschlagen, wo Menschen wie er nicht vorgesehen sind. Ein Werkzeug, um mit Gleichgesinnten und Schicksalsgenoss*innen in Kontakt zu bleiben und Informationen auszutauschen. Und ein Werkzeug, um über die Runden zu kommen und sich vielleicht irgendwann einen Traum zu erfüllen: mit einem VW-Bus die Freiheit – die analoge Welt – zu erkunden.

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