Etwas nehmen, wie es ist

Einer hat Alzheimer und ist schwul. Einer ist manisch-depressiv. Und einer hat ein Kind mit Trisomie21. Die Brüder Schiegg aus Basel sprechen miteinander darüber, was für sie seit vielen Jahren Normalität ist.

19.01.2024Aufgezeichnet von SARA WINTER SAYILIR, FOTOS: LUCIA HUNZIKER

Etwas nehmen wie es ist

Jochen: Simon ist zweieinhalb Jahre jünger als ich, der Stefan dreieinhalb. Ich war ziemlich schnell in der Entwicklung. Dann kam Simon. Bei ihm ging alles ein bisschen langsamer. Als Mutter wieder schwanger war, soll sie gesagt haben: «Ich hoffe, dass der Simon laufen kann, wenn das dritte Kind da ist, sodass ich nicht zwei Buschi habe.» Als Kinder hatten wir es gut. Der Vater war immer zu Hause, er hatte ein Grafikatelier, am Mittagstisch trafen sich alle. Manchmal hat er auch gekocht. Auch Mutter war Grafikerin, sie arbeiteten zusammen. Sie hat abends, wenn wir im Bett waren, klassische Musik gehört und gezeichnet und gemalt.

Simon: Meine Langsamkeit, die ich jetzt auch noch habe, hatte schon immer mit meiner Verträumtheit zu tun. Ich war gern in meiner eigenen Welt und bin das immer noch ein bisschen. Die Eltern habe ich sehr unterschiedlich erlebt. Beide, würde ich sagen, liebevoll. Aber Mutter war mir gegenüber ziemlich streng. Sie hat versucht, mir Ordnung beizubringen, aber ich habe es nie gelernt. Der Vater war anders. Er hatte ganz spontane Ideen, war voller Kreativität, humorvoll und unternehmungslustig.

Stefan: Ich war oft im Atelier, wir durften auch helfen. Manchmal hat der Vater gefragt, ob wir am Samstag oder so Zeit hätten. Es war ein ziemlich organisierter Haushalt. Wir hatten schon unsere Freiheit. Als Simon im Gymnasium war, in der siebten Klasse, da hat es begonnen. Der Lehrer rief an, weil Simon einen Vortrag halten sollte und einfach nicht in die Schule ging. Mein Vater brachte ihn dann hin. Im Nachhinein deute ich das als erstes Zeichen für seine spätere Erkrankung, ob ich es damals schon bewusst wahrgenommen habe, weiss ich nicht.

Simon: Ich habe das ganze Leben bis jetzt damit Schwierigkeiten: Im Denken war ich immer relativ schnell, aber bei so rein praktischen und körperlichen Sachen war ich langsam. Je näher ich an die Matur kam, umso bedrückter und blockierter fühlte ich mich. Damals hatte ich wohl meine erste depressive Verstimmung. Auch im Militär musste alles schnell gehen. Ich war einfach überfordert. Das ging über meine Grenzen und ich hatte keine Energie mehr. Mit 20 fing es dann richtig an, mit einer Depression. Und dann hing ich praktisch nur zu Hause rum, ich wohnte noch bei den Eltern und wusste nicht, was ich machen soll. Ärztliche Hilfe oder Medikamente bekam ich damals noch keine.

 

SIMON: «Ich wäre gerne frei.»

Simon Schiegg, 61, singt im Surprise Strassenchor, verkauft seit Kurzem auch das Strassenmagazin. Es läuft gut, sagt er. FOTO: LUCIA HUNZIKER

 

Stefan: Später hast du angefangen zu studieren, Sprachen und Theologie. Aber du hat nichts abgeschlossen, immer nur was anderes probiert. Und dann kam die Sache mit Hamburg.

Simon: Ich habe dort ein weiteres Studium machen wollen, an der Fachhochschule für Diplom-Bibliothekare. Aber gegen Ende der Ausbildung, als ich mich schon angemeldet hatte für die Diplomprüfungen, bin ich wieder erkrankt. Schliesslich landete ich in einer Klinik, dem Albertinen-Krankenhaus. Dort war ich über ein halbes Jahr. Anschliessend lebte ich noch ein weiteres Jahr in einer psychotherapeutischen Lebensgemeinschaft in der Nähe von Hamburg, in Itzehoe.

Jochen: Damals rief mich unsere Mutter an. Sie sagte, der Simon sei in Hamburg in eine Klinik eingeliefert worden. Sie wolle hinfahren, ich solle mitkommen und alles stehen und liegen lassen. Sie war sehr aufgewühlt. Weil ich eine Ausbildung zum Psychiatriepfleger abgeschlossen hatte, wollte sie mich dabei haben. Also fuhr ich mit. Vor Ort wurde schnell klar, dass Simon noch eine Weile in der Klinik bleiben muss. Und dass er die Ausbildung nicht weiter machen kann.

Simon: Ich lebte damals in einem Studentenwohnheim zwischen Aussenalster und Stadtpark. Das war eigentlich sehr nett. Bis ich jeden Morgen aufs Neue kämpfen musste, um aufzustehen und etwas an der Fachhochschule zu machen. Ich habe es einfach nicht mehr aus dem Bett geschafft. Zwei bis drei Mal wollte ich mir die Hosen anziehen. Und immer, wenn ich fast fertig war, dachte ich: Nein, ich schaffe es doch nicht. Dann zog ich mich wieder aus und legte mich ins Bett. Gegen Mittag bekam ich Hunger. Dann ass ich etwas in der Mensa. Das ging, aber für die Diplomprüfungen hatte ich keine Energie. Stattdessen holte ich mir leichte Krimis aus der Bibliothek. Ich wäre total vereinsamt, wäre da nicht Heinrich gewesen, ein Mitbewohner. Er studierte an der Hochschule für Wirtschaft und Politik. Heinrich merkte, dass es bei mir im Zimmer immer so still war und fragte immer wieder: Simon, komm, ich will einen Spaziergang machen. Willst du nicht mit? Er hat nie aufgehört zu fragen. Es ist wichtig, so jemanden in der Nähe zu haben, selbst wenn er nie ganz verstehen wird, wie es in demjenigen aussieht, der erkrankt ist.

Jochen: Das hatte ich gar nicht so genau mitgekriegt mit deiner Depression. Ich nahm auch lange Antidepressiva. Wir haben das in der Familie.

Simon: Und ich wusste nicht, dass du ebenfalls Antidepressiva genommen hast.

Stefan: Jochen hat mir mal gesagt, er sei auch manchmal depressiv. Aber dass er Medikamente nahm, das wusste ich auch nicht.

Jochen: Bei mir ist es komischerweise mit dem Alter besser geworden. Erst hat man das Medikament reduziert, dann auf ein anderes umgestellt, und jetzt, vor etwa einem halben Jahr, hat der Arzt mir geraten, ich solle es nicht mehr nehmen, und es ist gut so. Unser Grossvater mütterlicherseits, so wurde erzählt, war auch manisch-depressiv. Das hat ja auch einen Erbfaktor wie andere Krankheiten.

Simon: Gott sei Dank habe ich seit über 20 Jahren nie wieder eine solche Depression gehabt wie damals in Hamburg. Aber ich habe durchschnittlich alle drei bis vier Jahre eine grössere und dazwischen so kleinere manische Phasen.

Stefan: Es ist ein Problem, wenn du deine Medikamente nicht nimmst. Oft merke ich schon an der Stimme am Telefon, wie du drauf bist. Besonders wenn du dich auf etwas freust, dann willst du es wirklich geniessen und nimmst die Medikamente nicht mehr. Und öfter kippt es dann eben über. Dann landest du in der Klinik, statt das zu machen, was du eigentlich willst.

Jochen: Diese Medikamente dämpfen ja auch. In der Klinik, wo ich meine Ausbildung gemacht habe, gab es ein Kunstatelier für die Patient*innen. Das ist ja eine eigene Kategorie: Art brut. Manche kamen kurz nach der Einlieferung in das Atelier. Parallel schluckten sie jeden Tag ihre Medikamente. Nach einer gewissen Zeit versiegten die Ideen. Ich konnte das sehen, das ist wirklich verrückt. Und das Kreative vermisst man dann wahrscheinlich auch.

Simon: Mittlerweile habe ich einsehen müssen, dass es einfach nicht geht ohne Medikamente, vor allem ohne das Lithium. Doch bedeutet dies auch immer wieder eine gewisse persönliche Demütigung. Ich würde gerne frei leben, frei von Medikamenten und Psychiatrie.

 

JOCHEN: «Man weiss nie, was kommt.»

Jochen Schiegg, 64, ehemals Psychiatriepfleger, singt im Surprise Strassenchor. Gerade war er mit einer Freundin in Ägypten. FOTO: LUCIA HUNZIKER

 

Jochen: Als junger Mensch ging ich zum Psychiater, weil ich ein Problem damit hatte, dass ich schwul bin. Das war damals noch nicht so akzeptiert, und ich dachte, ich würde ein schreckliches Leben haben. Unser Vater hatte damit Probleme, als Mann. Darüber geredet wurde nicht. Erst als er an Krebs erkrankte, söhnten wir uns aus. Er starb früh, wurde nicht einmal sechzig. Erst viel später hat sich herausgestellt, dass unser Onkel, der Bruder meiner Mutter, ja auch schwul war! Es gibt ja verschiedene Theorien, woher das kommt, aber für mich ist die plausibelste, dass das halt auch einen Erbfaktor hat. So wie eine Depression: Entweder ist sie eine Reaktion auf etwas, oder das ist so in dir. Als ich meinen ersten richtigen Freund hatte, den Axel, und ihn der Familie vorgestellt hatte, merkte ich, dass das eigentlich gar nicht so ein Problem ist. Unser Vater war da allerdings schon verstorben. Und dann kam ja auch die ganze gesellschaftliche Öffnung.

Stefan: Genau, an Axel kann ich mich gut erinnern. Und dann war da Alessandro. Den mochte ich. Aber ich empfinde den jetzt eher einfach als guten Freund.

Simon: Manchmal hat Jochen mit seinen Freunden ganz lustige Abende gemacht, zum Beispiel mit einem Spiel, Dixit, wo man sehr viel Fantasie braucht. Es war so lustig, da waren etwa ein Dutzend Männer an diesem Spieleabend, ich war der einzige Heterosexuelle. Ich habe mich total wohl gefühlt.

Jochen: Mein Coming-Out hatte ich mit 19. Damals gab es ja noch nicht so Apps zur Partnersuche, aber es gab den Doppelstab, das war eine Gratiszeitung in Basel, und plötzlich standen darin so Inserate wie: Boy sucht Boy. Da musste man einen Brief mit einer Chiffrenummer mit Foto schicken. Das habe ich gemacht. Und tatsächlich kam eine Woche später ein Brief zurück mit einem Foto und einer Telefonnummer. Wir haben uns tatsächlich getraut und getroffen. Ich hatte schon Glück mit dem Ersten. Das weiss man ja nie. Ich merkte aber schnell, ich kann das irgendwie nicht, Beziehungen, mir ist das zu eng, ich glaube, ich brauche das nicht. Meine längste Beziehung dauerte zwei Jahre. Aber ich habe viele gute Freund*innen, ich singe im Chor, ich bin viel gereist und reise immer noch gern. Nur nicht mehr allein, das geht nicht mehr wegen der Krankheit.

Stefan: Du hast sofort, als die Diagnose Alzheimer kam, offen kommuniziert. Andere machen ja ein Geheimnis drum. Für dich aber war das klar. Es ist wohl auch besser, wenn man weiss, woran man ist. Sonst denkt man, warum fragt er jetzt schon zum dritten Mal? Hält er mich für blöd?

Jochen: Die Diagnose kam kurz vor meinem 60. Geburtstag, vor über drei Jahren. Aber vermutet hat man es schon länger. Ich habe das zuerst gar nicht gemerkt. Es fing damit an, dass Freunde sagten, das hast du mir schon mal erzählt. Mit der Zeit fiel mir auf, dass ich Dinge nicht mehr finde. Dann kamen sehr viele Untersuchungen. Das war eigentlich die schlimmste Zeit. Diese Ungewissheit.

Simon: Wenn ich mit dir, Jochen, am Nachmittag unterwegs bin und du mir schon zum dritten Mal die gleiche Frage stellst, die ich dir schon zweimal beantwortet habe, dann habe ich damit Mühe, weil ich von Natur aus nicht so ein geduldiger Mensch bin. Ich muss das einfach einüben, dass ich es so nehme, wie es ist. Und so geduldig wie möglich immer wieder die gleichen Antworten auf die gleichen Fragen geben, was mir zwar sehr schwerfällt, aber langsam auch besser wird.

Jochen: Dazu muss ich noch sagen, dass mich das dann auch kränkt. Du wirst fast aggressiv. «Das habe ich dir schon einmal gesagt. Das hast du mich schon einmal gefragt.» Es ist doch eigentlich kein Aufwand. Aber das ist wohl das Zusammenspiel von Alzheimer und Manie.

Simon: Ich kann schnell einen Ausdruck von jemandem anders interpretieren, als er eigentlich gemeint ist. Und bekomme häufig das Gefühl, jemand will sich mir gegenüber erheben oder ist unfreundlich.

Jochen: Als unsere Mutter starb, waren wir drei schon ausgezogen. Stefan hatte ein Haus und Familie auf dem Land. Zufällig wurde mir damals meine Wohnung gekündigt. Da habe ich gesagt, ich würde schon ins Elternhaus ziehen, ich könnte ja auch mit Simon zusammenziehen. Stefan wies mich darauf hin, dass so ein Zusammenleben auch schwierig sein könnte.

Simon: Ich habe schon ganz unterschiedliche Wohnformen probiert. Etwas vom Besten war, eine eigene Wohnung zu haben mit sogenannter ambulanter Wohnbegleitung. Das habe ich zweimal probiert. Es ist aber auch schnell wieder gescheitert, weil ich nicht konsequent genug meine Medikamente genommen habe. Mich frustriert, dass sowohl in der Klinik als auch im Wohnheim viele meiner Mitbewohner*innen nicht nur eine psychische Begrenzung haben, sondern häufig auch stark kognitiv eingeschränkt sind.

Jochen: Ich gehe ab und zu mal bei Simon im Wohnheim Zmittag essen. Das Essen ist immer sehr gut und alle nett. Aber die meisten Leute, die ich dort kennengelernt habe, sind sehr eingeschränkt. Und immer mit ihnen zusammen zu leben, ist nicht einfach. Das möchte ich nicht. Ich habe viel mit Leuten mit psychischen Krankheiten gearbeitet, mit Suchtkranken und Aidskranken. Also zog ich damals allein ins Elternhaus und vermiete seitdem einzelne Zimmer unter. Simons Teil des Hauses haben wir ihm ausbezahlt.

Stefan: Ich versuche, so alle drei Wochen bei dir vorbeizugehen, und schau dann, was dort alles rumliegt. Es wird immer chaotischer im Haus. Zum Beispiel nimmst du dir vor, das Büchergestell aufzuräumen. Und dann liegen wochenlang alle Bücher in der Stube und das Büchergestell ist leer. Dass du Untermieter hast, finde ich gut. So ist ab und zu mal jemand da.Wobei du manchmal auch ein bisschen spezielle Menschen dort bei dir hast. Da mache ich mir manchmal auch Sorgen. Ich gehe eigentlich nicht davon aus, dass irgendjemand Profit aus deiner Lage schlagen wird. Aber man weiss es nicht. Da bin ich jetzt so ein bisschen am hin und her überlegen.

Jochen: Stefan hat eine Vollmacht auf mein Konto. Ich vertraue ihm. Und ich bin froh, dass er ein bisschen schaut. Ich habe schon Rechnungen doppelt bezahlt. Ich muss mir alles in die Agenda schreiben. Dann schreibe ich noch für jeden Tag Zettel, was ich machen muss, wann und wie und wo. Zusätzlich schreibe ich auf, was ich noch machen könnte – das gibt mir ein bisschen Struktur. Wenn ich irgendwo hingehe, wo ich nicht mehrmals die Woche bin, kann ich auf Google Maps schauen. Das macht mir keine Angst mehr, ich habe mich daran gewöhnt. Allerdings werde ich manchmal auch wütend. Wenn ich irgendwo bin und nicht weiss, warum, und dann eine Viertelstunde herumsuche und es vielleicht trotzdem nicht finde. Am Abend kann ich dann wieder drüber lachen.

Stefan: Es gibt verschiedene Arten von Beistandschaft. Für unseren Sohn Emanuel, der mit Trisomie21 auf die Welt kam, haben wir eine sogenannte Begleitbeistandschaft. Wenn er einen Vertrag unterschreibt, können wir den rückg.ngig machen. So was könnte ich mir auch für Jochen vorstellen, aber eben, man müsste es angehen. Die Angehörigen-Beratung von der Memory Clinic hat gesagt, es gäbe die Möglichkeit gemeinsam abzumachen, dass wir das ganze Administrative an jemand anderes abgeben und einfach so als Brüder zusammen sein können. Das würde auch für mich die ganze Sache vielleicht ein bisschen entspannen und entschärfen, dass ich weiss, da muss ich nicht auch noch schauen.

Jochen: Ich mache keine grossen Pläne mehr. Ich bin viel allein gereist, das geht jetzt eigentlich nicht mehr. Das hatte auch damit zu tun, dass unser Vater so früh starb. Ich hatte damals viel mit ihm darüber geredet, was er alles gemacht hat. Und als er verstarb, hatte ich gedacht: Ja, man weiss nie, was kommt. Danach arbeitete ich nur noch 70 Prozent, um mehr Zeit für mich zu haben. Ich bin sehr dankbar, dass ich mir das so eingerichtet habe. Und diese Reisen gemacht habe. Vielleicht mache ich ein grösseres Geburtstagsfest mit guten Freunden und Bekannten, wenn ich 65 werde. Ob ich das dann wirklich mache, das weiss ich noch nicht. Ich bin ja niemandem zu was verpflichtet.

 

STEFAN: «Wir finden einen Weg.»

Stefan Schiegg, 60, Lehrer am Gymnasium Muttenz, bezeichnet sich als eher rational denkend. Er hat Physik und Astronomie studiert. FOTO: LUCIA HUNZIKER

 

Stefan: Ich bin so ein bisschen der Einzelgänger-Typ, zurückhaltend. Im Nachhinein weiss ich nicht mehr so genau, wie das mit dem Kennenlernen funktioniert hat. Meine Frau Sibylle hat mich angesprochen, nicht ich sie. Ich war gehemmt. Wir haben zusammen Musik gemacht und uns auf einer Auslandreise näher kennengelernt. Ende der 1980er-Jahre sind wir zusammengekommen. Wir haben uns lange Zeit gelassen, rund zehn Jahre später dann geheiratet.

Simon: Ich habe mich von mir aus auch nie jemandem genähert. Ich war immer sehr selbstkritisch. Sowohl in dem, was ich gemacht habe, als auch in dem, was ich beispielsweise zeichnete. Ich zeichne viel, bin auch in verschiedenen Kunstateliers beschäftigt gewesen. So mit 20, 25 Jahren hätte ich nie gedacht, dass es eine Frau geben könnte, die sich von meinem Äusseren her für mich interessieren würde. Darum liess ich das bleiben.

Stefan: Sibylle ist der Beziehungs- und Gefühlsmensch, ich der Kopfmensch. Das ist nicht immer einfach. Ich muss mir Mühe geben, um mich auch auf der emotionalen Ebene einzubringen. Das funktioniert nicht immer gleich gut, aber ich denke, wir sind daran, einen gangbaren Weg zu finden. Man sieht ja so viel im Umfeld, man kennt andere Familien und weiss, wie was funktionieren kann. Eine Beziehung nach 30 Jahren ist eben komplex, so wie man selbst auch. Man findet sich selber ja auch nicht immer gleich.

Jochen: Ich bin eben nicht so der Beziehungsmensch. Als ich jung war, wollte ich Kinder, später nicht mehr. Simon aber ist der Pate von Emanuel, Stefans ältestem Sohn.

Stefan: Aber du hast viel mit unseren Kindern unternommen. Sie gingen auch gerne zu dir. Anna, unsere Älteste, hat mal gesagt, du seiest ihr Lieblingsonkel. Klar, du hast auch etwas Jugendliches. Und ich denke, du warst halt auch grosszügig, wenn sie was wollten. Auch wenn du jetzt zu Besuch kommst, haben sie immer eine Freude. Emanuel freut sich sowieso immer riesig, generell, wenn Besuch kommt.

Simon: Emanuel ist mit Down-Syndrom auf die Welt gekommen, aber wirklich leicht. Er ist selbständig, kann lesen, schreiben, halt mit Fehlern, aber man begreift, was er meint, was er will, und er kommt allein von zuhause in Baselland nach Basel und alles Mögliche. Und er ist musikalisch.

Jochen: Ja, er spielt super gut Schlagzeug.

Stefan: Unser Sohn ist jetzt 23. Ich sage jetzt ein dummes Wort, aber: Er ist fast normal. Also, er hat wohl Down-Syndrom und so seine Einschränkungen und Macken, aber wer hat die nicht? Er wohnt noch zu Hause und ist froh, wenn man ihn weckt am Morgen. Er will auch noch nicht ausziehen und hat gesagt: Mit 25 mache ich dann die Wohnschule. Ob er ganz alleine wohnen wird, weiss ich nicht. Auch wegen Ernährung und Handyverhalten. Und mit Geld umgehen, damit hat er Probleme. Emanuel geht zwar einkaufen, aber ob etwas 5 Franken kostet oder 50, macht für ihn keinen Unterschied. Er hat keine Beziehung zum Geld. Meine Frau macht die Buchhaltung für ihn. Ansonsten liest Emanuel Fahrpläne, er spricht gut, man versteht ihn, er findet sich zurecht. Seit zwei Jahren arbeitet er in Allschwil, dort beim Bachgraben in diesem neuen Quartier, bei einer Firma. Wir mussten mit ihm den Arbeitsweg zwei-, dreimal machen, damit er weiss, in welchen Bus er am Bahnhof umsteigen muss. Seitdem macht er das alleine. Er weiss sich zu helfen.

Simon: Aus meiner Sicht ist es eine interessante Zusammenstellung mit Emanuels Trisomie 21 und meiner bipolaren Erkrankung. Emanuel hat schon sehr früh über seine eigene Erkrankung geredet, und wahrscheinlich weiss er auch etwas über meine Krankheit.

Jochen: Aber du hast nie mit ihm drüber geredet, oder? Und ich weiss nicht, ob Stefan ihm das mal gesagt hat. Ob es überhaupt Sinn macht, dass er das weiss?

Simon: Wir haben sehr unterschiedliche Interessen: Fussball interessiert Emanuel sehr, er hat lange aktiv gespielt, und ist in einer Band. Ich bin eher der poetische Typ, der Texte schreibt und Zeichnungen macht. Aber wir haben ein grosses gemeinsames Hobby: «Tim und Struppi», wir lesen die Comics zusammen, in verteilten Rollen. Er ist Reporter Tim, und ich bin Kapitän Haddock. Wobei ich meistens nach zwölf Seiten aufgebe: Ich kann nicht mehr so gut lesen wie früher, das kommt auch durch die Medikamente. Ich kann mich nicht mehr so gut konzentrieren. Ich kann nur ganz leichte und kurze Sachen lesen.

Jochen: Ich kann auch nicht mehr so lange lesen, so Bücher, Romane. Wenn ich in der Mitte bin, weiss ich nicht mehr, was am Anfang war. Stefan hat ja auch noch zwei Mädchen. Die mittlere Tochter, Anna, ist jetzt 19, ihr Traumberuf ist Hebamme. Sie ist clever und könnte auch studieren. Und die andere Tochter, Romina, wurde im Frühling konfirmiert, da waren wir alle eingeladen, sie ist eher ruhig, ja, cool.

Stefan: Romina eifert jetzt ein bisschen der Älteren nach, sie machen viel zusammen, haben sogar lange im gleichen Zimmer geschlafen. Mit Emanuel kommen sie gut klar. Als Emanuel geboren wurde, im Jahr 2000, war das schon ein Einschnitt. Also für mich. Ich wusste nicht, wie das weitergehen soll. Ich hatte sehr düstere Gedanken. Aber wir hatten und haben ein tolles Umfeld. Mit meinem Schwiegervater hat sich Emanuel von klein an gut verstanden. Das war für uns eine Riesenentlastung. Aber am Anfang, gell, da liest du alle Bücher über Down-Syndrom. Stapelweise. Meine Frau hat irgendwann gesagt, komm, ich habe genug, ich lese gar nichts mehr, wir nehmen es so, wie es kommt. Wir mussten uns an vieles gewöhnen, was nicht so typisch schweizerisch ist. Emanuel setzt sich im Zug irgendwo hin, wo schon jemand ist und beginnt zu quatschen. Plötzlich kommt man mit wildfremden Leuten ins Gespräch. Ich frage mich manchmal, hm, was die Leute wohl denken. Aber ich glaube, mich nervt es wohl manchmal mehr als die anderen.

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