Etwas nehmen, wie es ist

Der Schweizer Fussballnationaltrainer Murat Yakin über seine Kindheit in Armut, den Umgang mit Rassismus und warum Leistung auch eine Chance sein kann.

19.01.2024TEXT: ANDRES EBERHARD, FOTOS: DESIRÉE GOOD

Klein? Gross? Und wo ist bloss der Zucker? Es ist ein ungewöhnliches Bild: Fussball-Nationalcoach Murat Yakin steht hinter der Bar und offeriert seinen Gästen Kaffee. Er empfängt in der Yakin-Arena an seinem Wohnort Oberengstringen an der Stadtgrenze von Zürich. Die Fussballhalle mit drei kleinen Kunstrasenplätzen zum Mieten gehört ihm und seinem Bruder Hakan Yakin, der ebenfalls um die Ecke wohnt.

An diesem sonnigen Sommervormittag im Juli fährt Yakin mit seinem Wagen vor, schliesst die Halle auf, fürs Foto betätigt er den Lichtknopf in der Arena, fürs Interview hebt er ein paar Stühle von den Tischen. Es ist ein ganz und gar unkomplizierter Empfang, ohne Kommunikationsberater*innen oder weitere Medien. Im Dezember findet die Fussball-Weltmeisterschaft in Qatar statt, bald startet die Vorbereitung, in der Yakin und sein Team unter steter öffentlicher Beobachtung sein werden. Zum Zeitpunkt des Gesprächs sind die Scheinwerfer noch aus, es ist Saisonpause. Zeit, um über einige Dinge abseits des Sports zu sprechen.

Murat Yakin, Sie wuchsen in ärmlichen Verhältnissen auf – zeitweise lebten Sie zu zehnt in einer Dreieinhalbzimmerwohnung in Münchenstein, die Familie bezog Sozialhilfe. Wie hat Sie das geprägt?

Murat Yakin: Es ist von Vorteil, wenn du weisst, wie das Gras wächst. Wir wuchsen bescheiden auf, hatten nicht viel Geld. Aber wir waren eine grosse, starke Familie. Meine Mutter und meine Geschwister behüteten und beschützten mich, das gab mir enorm viel Kraft, sodass ich einfach nur Freude am Fussballspielen haben konnte.

War es also der Zusammenhalt, der den sozialen Aufstieg der Yakins ermöglichte?

Ja, es braucht ein Fundament, um dran zu bleiben, nicht vom Weg abzukommen, das Ziel vor Augen zu haben. Ansonsten wäre der Fussballclub vielleicht eine einmalige Aktion geblieben. Aber als Junge wusste ich das natürlich nicht. Ich ging einfach immer nur gern tschutten. Es fing damit an, dass wir mit einem Ball unterm Arm in die Schule gingen, im Pausenhof kickten, die Linien zeichneten wir mit Kreide, unsere Rucksäcke legten wir an den Boden, die markierten das Goal. Später war der Wochenplan durch drei Trainings pro Woche sowie Spiele am Wochenende stets vorgegeben. Samstags kamen wir von der Schule nach Hause, wir packten unser Zeugs und fuhren direkt zum Joggeli. Wir chillten nie irgendwo auf einer Matte, so etwas kannte ich nicht. Über den Fussball hat dann auch die Integration stattgefunden.

Als Sie mit 17 Jahren Ihren ersten Profivertrag unterschrieben, verdienten Sie rund 3000 Franken pro Monat. Davon mussten Sie erst einmal Ihre Familie unterstützen sowie Sozialhilfe zurückzahlen. Sie übernahmen schon sehr früh viel Verantwortung. Wie gingen Sie mit diesem Druck um?

Ich hatte keine Wahl. Ich musste damit zurechtkommen. Wir als Familie mussten einfach funktionieren. Ich habe damals aber gar nicht alles verstanden. Im Sport solltest du mit Freude dabei sein, nicht mit Druck. Das Ergebnis kommt dann von alleine. Die Situation damals hat mir aber sicher bis heute viel gebracht. Zum Beispiel lernte ich, demütig zu sein.

Hatten Sie einen Plan B?

Im Sport musst du immer mehrere Optionen haben. Ohne Plan B und C bist du verloren. So wie in einem Schachspiel. Du weisst nie, welchen Zug dein Gegner als nächsten macht, musst mit allem rechnen. Aber im Leben? Was hätte ich gemacht, wenn es mit dem Fussball nicht geklappt hätte? Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung. Ich hatte eine Lehre als Metallbauzeichner angefangen, aber nicht abgeschlossen.

Nun sind Sie Trainer. Bald ist WM, der öffentliche Druck wird wieder enorm sein. Wie sollen jüngere Spieler damit umgehen?

Am Schluss muss jeder für sich diese Erfahrungen machen und damit zurechtkommen. So etwas lässt sich nicht steuern. Da muss ich mich als Trainer zurücknehmen. Natürlich kann ich unterstützend wirken, Tipps geben, aber letztlich steht jeder selber auf dem Platz und trifft seine Entscheidungen. Da hilft kein Mentalcoach und auch kein mütterlicher oder väterlicher Rat.

Das ist die harte Realität eines Fussballers: Nur die Leistung zählt.

Genau. Das ist aber auch das Gerechte daran. In der Nationalmannschaft haben wir in den letzten acht Monaten gute junge, talentierte Spieler integriert, welche die Konkurrenz fördern. Und nur mit Konkurrenz kannst du besser werden und grössere Erfolge anstreben.

Der Fussballer Per Mertesacker schrieb in seiner Biografie, er habe sich vor Spielen regelmässig übergeben müssen – so gross war der Druck, den er auf seinen Schultern spürte.

Er hat noch viel mehr geschrieben, nicht nur über seine eigenen Probleme. Wenn jemand den Fussball so schlecht macht, dann habe ich absolut kein Verständnis dafür. Warum schreibt er all das erst nach seinem Rücktritt? Schliesslich hat er jahrelang gut gelebt und viel Geld verdient. Darüber hat er sich auch nicht beklagt. Ich finde es unfair gegenüber all den Jungen, die nie eine Chance bekommen haben, wenn jemand den Fussball nur als Mittel sieht, um Geld zu verdienen – und ihn nicht aus Freude betreibt.

Sie gelten als Paradebeispiel nicht nur für sozialen Aufstieg, sondern auch für gelungene Integration. Ehrt Sie das?

Natürlich bin ich stolz und zufrieden, wie es verlaufen ist. Ich bin in zwei Kulturen aufgewachsen, durch den Sport durfte ich weitere kennenlernen. Ich bin ein glücklicher Mensch, dass ich das alles erleben durfte, ohne dass ich dafür Geld für Reisen oder Ausbildungen hätte ausgeben müssen. Aber du kannst es dir nicht aussuchen. Am Ende ist es auch Glück, dass wir hier in der Schweiz aufwachsen durften. Unsere Mutter hat uns sehr liberal erzogen, hat uns nie in eine bestimmte Kultur gedrängt, zuhause sprachen wir Türkisch, die Integration erfolgte über den Fussball.

Als Sie 1994 eingebürgert werden sollten, formierte sich im Landrat von Baselland Widerstand. Können Sie sich noch erinnern?

Ja. Der Fussballverband hatte uns zwar unterstützt, der damalige Nationaltrainer Roy Hodgson schrieb einen Brief. Das Verfahren wurde damit aber nicht wirklich beschleunigt. Wir warteten fast drei Jahre auf den Pass. Ich sass dann bei der entscheidenden Versammlung auf der Tribüne. Als in einer ersten Runde gefragt wurde, wer dagegen war, gingen zwei, drei Hände nach oben. Die haben dann auch eine Rede gehalten.

Wortführer war Rudolf Keller, damals Nationalrat der ausländerfeindlichen Rechtsaussenpartei Schweizer Demokraten.

Wer das war, weiss ich nicht mehr. Politik interessierte mich nicht. Schon in der Pause der Verhandlung, als ich die Treppe runterkam, zwinkerten mir einige Politiker*innen zu. Sie sagten, das komme schon gut. So war es dann auch.

Sie sind in der Schweiz geboren und aufgewachsen, wollten für die Schweizer Fussballnationalmannschaft spielen. Dann kommt einer und sagt, Sie gehören nicht zu uns. Das ist Rassismus.

Ich habe das damals gar nicht so empfunden. Wie willst du das als 17-Jähriger verstehen, du spielst Fussball und am Ende entscheidet das Resultat, ob du gut oder schlecht warst. Es gibt immer Leute, die gegen dich sind. Gegner kannst du nur besiegen, indem du besser bist.

Sie betrachten das Leben als Spiel?

Ja, das kann man so sagen. Ich blicke auch nicht oft zurück, denn das ist im Sport nicht nützlich. Man muss es nehmen, wie es kommt. Ich lebe nur in der Gegenwart.

Bei Ihrer Einbürgerung lautete das Resultat 60:6. Ein deutlicher Sieg.

So habe ich das noch gar nie betrachtet: Aber es stimmt, am Schluss hat die Gerechtigkeit gewonnen.

Erleben Sie auch heute noch Alltagsrassismus?

Klar. Das gehört zu unserem Leben als Secondos.

Wie äussert sich so etwas?

Da möchte ich nicht ins Detail gehen. Aber ich weiss, wie ich damit umgehen muss. Als Ausländer, die hier aufgewachsen sind, sahen wir das als Chance. Vielleicht war es die einzige Chance, und möglicherweise haben wir es gerade deswegen an die Spitze geschafft.

Kürzlich sorgte ein rassistischer Kommentar auf Blick Online für Schlagzeilen. Jemand beklagte sich, er könne sich nicht mehr mit der Nationalmannschaft «identifizieren», und zwar wegen der Namen der Spieler. Nationalmannschafts-Captain Granit Xhaka beschwerte sich öffentlich. Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?

Selbstverständlich. Granit Xhaka trifft so etwas sehr, das Thema lässt ihn nicht in Ruhe, das muss man respektieren. Ich weiss, wie das ist, wenn man wegen seiner familiären Herkunft beleidigt oder beschimpft wird. Das tut weh und ist nicht akzeptabel. Deshalb haben wir ihn auch unterstützt und uns als gesamter Verband gegen diesen Kommentar gewehrt. Als Trainer kann ich da nur unterstützend wirken. Manche trifft’s persönlicher, andere gar nicht.

Sie haben eine eindrückliche Karriere hingelegt, erst als Spieler, jetzt als Trainer. Wie geht es Ihnen damit?

Ich bin happy, habe eine gesunde Familie. Das gibt mir Kraft und Gelassenheit. Was ich im Sport erreiche, ist Zugabe. Ich geniesse diese Momente und weiss auch, dass es im Sport auch die andere Seite der Medaille gibt, wenn es gerade nicht läuft. Grundsätzlich bin ich ein positiver Mensch und sehe das Gute auf dem Weg.

Sind Sie reich?

Was heisst schon reich. Für mich heisst reich sein glücklich sein und nicht, was am Ende auf dem Bankkonto liegt. Solange ich mit einer Beschäftigung im Sport mein Geld verdienen kann, erfüllt mich das im Herzen.

Welche Ideale und Werte verbinden Sie mit Fussball?

Der Fussball gab mir viel fürs Leben. Du lernst diszipliniert zu sein, Erfolge und Misserfolge zu teilen, Kameradschaft, Solidarität, auch Respekt gegenüber dem Gegner. Auch Demut und Fleiss haben ihren Stellenwert.

Kann man es mit Fleiss alleine schaffen?

Am Anfang hatte ich viel meinem Talent zu verdanken, habe vieles auf dem Platz spielerisch und mit Kreativität gelöst. Disziplin gehörte auch dazu, ich verpasste kaum ein Training. Der Fleiss wurde dann später wichtiger.

Sie haben zwei Töchter, neun und sieben Jahre alt. Werden sie es leichter haben als Sie?

Bei uns spielte sich die ganze Karriere in unglaublicher Geschwindigkeit ab. Im Sport gibt es eine sehr schnelle Durchlaufzeit. Die Karriere von Sportler*innen ist auf vielleicht fünfzehn Jahre begrenzt. Also ist das schon einmal etwas ganz anderes als normale Arbeit. Aber auch wir schauten am Wochenende einmal eine Stunde lang einen Film, das war’s dann aber auch. Heute ist das Tempo und auch der Druck zu reagieren viel höher, mit Smartphone, Tiktok, Videoclips, das ist der Wahnsinn. Was da alles reinkommt, das musst du erst einmal verarbeiten. Der Informationsfluss ist heute viel schneller, die Jugend ist diesem ausgesetzt, ich finde das verrückt.

Sie stammen aus einfachen Verhältnissen, erwähnten die Wichtigkeit von Demut. Wie geben Sie diese Ihren Kindern weiter?

Bescheidenheit kannst du nicht lernen. Ich bin damit aufgewachsen. Geld wurde uns nicht in die Wiege gelegt, wir mussten uns das erarbeiten. Die Situation ist für meine Kinder natürlich eine andere, es geht uns finanziell gut und meine Töchter werden in der Schule auf ihren Vater angesprochen. Demut müssen wir fast künstlich erzeugen.

Wie tun Sie das?

Es ist schwierig. Ich versuche es vernünftig und so einfach wie möglich begreiflich zu machen. Aber es ist wohl die grösste Herausforderung für meine Frau und mich. Doch wir leben in der Schweiz und sind nicht die Einzigen in dieser Situation.

 

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