Flucht: «Einsteigen oder sterben?»

Der Autor vertraute sein Leben Schleppern an, damit sie ihn von Libyen nach Europa bringen. Ob er überleben würde, war nicht klar. Heute ist
er in der Schweiz und schreibt darüber, was er auf der Flucht erlebt hat.

31.03.2023TEXT: ADAM MOUSSA ISSAKA, FOTOS: JACOB EHRBAHN

Als Flüchtling kann man nur mit Einladung legal in die Schweiz einreisen, im sogenannten Familiennachzug. Ich habe zwar einen Onkel in Genf, aber keinen Kontakt mit ihm. Vom UNHCR erhielt ich das Angebot, als Dolmetscher nach Ägypten zu gehen. Aber das wollte ich nicht. Dolmetscher zu sein, finde ich zwar sehr wichtig und interessant, aber es ist auch kein einfacher Beruf. Man ist immer wieder mit Krieg, Ungerechtigkeit und traurigen Geschichten konfrontiert, davon hatte ich genug. Ausserdem ist mein Leben in Gefahr, weil ich durch eine Verkettung unglücklicher Umstände im Tschad politisch verfolgt werde, unverschuldet.

 

Deswegen wollte ich lieber die gefährliche Reise über das Mittelmeer wagen, um in die Schweiz zu kommen. Auf die Idee kam ich im Juni 2012, als die damalige Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Simonetta Sommaruga, das Flüchtlingslager Shousha an der tunesisch-libyschen Grenze besuchte – wo ich lebte und als Dolmetscher arbeitete. Das Lager war von der lokalen Bevölkerung angegriffen worden, die eine Protestaktion von Flüchtlingen auflösen wollten, und die Situation war angespannt. Wir berichteten Frau Sommaruga über die Situation im Lager, und sie versprach im Rahmen der damals geschlossenen tunesisch-schweizerischen Migrationspartnerschaft, dass sich die Situation im Lager verbessern und Schutz sowie Sicherheit des Lagers gewährleistet würden. Die Schweiz finanzierte ein Projekt zur Unterstützung der Rückkehr und Reintegration von Drittstaatsangehörigen, die sich in diesem Lager aufhielten. Dieser Besuch bewirkte eine grosse Stimmungsänderung im Lager. Hiernach fasste ich das Ziel, in die Schweiz zu kommen.

 

Über einen Kollegen nahm ich Kontakt mit Schleppern auf. Der Weg, den sie vorschlugen, führte vom Shousha-Transitlager in Tunesien nach Zuara in Libyen, von Libyen ins italienische Lampedusa und dann in die Schweiz. Ich wusste, dass diese Reise sehr gefährlich ist. Aber ich wünschte mir, endlich an einem zu Ort leben, wo es Gerechtigkeit gibt und die Menschenrechte gelten. Zurück nach Hause zu gehen, ist keine Option, da dort mein Leben in Gefahr ist. Die Reise begann um 03:00 Uhr vom Lager. Wir waren zu viert, wurden von einer Person zu Fuss vom Lager abgeholt und liefen ca. eine halbe Stunde bis zum Grenzübergang zwischen Tunesien und Libyen. Dort wurden wir von drei anderen Personen in Empfang genommen. Wir bezahlten das Geld, die Summe ist individuell unterschiedlich, es kostet zwischen 600 bis 1000 US-Dollar. Danach wurden wir angewiesen, uns zu fünft auf einen Pritschenwagen zu legen. Wir wurden mit einer Decke abgedeckt, zwei Bewaffnete standen daneben und ein weiterer Mann fuhr, sehr schnell. Ich hatte viel Angst, einer der Männer war sehr aggressiv. Wenn jemand von uns sich bewegte, trat er zu. So verbrachten wir die Fahrt bis Zoura in Libyen.

«Wir folgten den Sternen»

Wir kamen zu einem Bauernhof, dort waren 48 Personen untergebracht wie in einem Lager. Einer nahm uns die Handys, unser restliches Geld und unsere persönlichen Dinge wie Schmuck weg. Wie im Gefängnis. Dann sagte er: «Geht da rein.»

Wir befanden uns mit 53 Personen in einer 2-Zimmer-Wohnung. «Ihr dürft nicht laut reden und keinen Lärm machen. Ich komme morgen Abend wieder zurück.» Er verschloss die Türe mit einem Schlüssel und nahm diesen mit.
Am nächsten Abend kam eine andere Person mit einem Sack Brot, warf das Brot durchs Fenster und sagte: «Keine Fragen.»
Am vierten Tag wurden vier weitere Personen zu uns gebracht. Nun waren wir 57 Personen: Männer, Frauen, Kinder –  alle zusammen. Es gab nicht genug Platz für alle. Ich und mein Freund haben uns abgewechselt: Er macht Platz für mich, damit ich zwei Stunden schlafen kann, dann mache ich für ihn das Gleiche. Fortlaufend kamen weitere Personen dazu.

Ein Mal kam einer und sagte: «Alle, die Arabisch verstehen, kommen auf die Seite. Welche Sprachen haben wir noch?» «Französisch und Englisch.»

«Wir brauchen Dolmetscher für Französisch und Englisch.»
Ich wollte nicht übersetzen, aber einer sagte, ich könne alle diese Sprachen. Also musste ich übersetzen. Folgende Informationen sollte ich weitergeben: Das Gebiet, in dem wir uns befinden, ist ein Kriegsgebiet und es ist nicht mehr sicher hier. Wir müssen in die Innenstadt umziehen. Doch das Wetter ist nicht gut und deshalb kann es länger dauern. Ein alter Mann sagte zu mir: «Wenn Sie für die übersetzen, werden sie Sie bei sich behalten und nicht gehen lassen.» Das nächste Mal habe ich extra schlecht gedolmetscht, zum Glück war mein Gegenüber eine andere Person und wusste nicht, was ich eigentlich konnte.

 

In der Nacht wurden wir mit einem Militärwagen in die Innenstadt gefahren. Dort gab es eine 3-Zimmer-Wohnung, aber auch noch mehr Leute, insgesamt waren wir nun 71 Personen. Die Idee war, dass wir hier mindestens einen Monat hinter verschlossenen Türen und ohne Essen verbringen, damit wir Gewicht verlieren. Es ging darum, mehr Leute in ein Boot zu quetschen.

Einen Monat und sechs Tage lang litten wir Hunger, hatten Angst vor Raketen und davor, dass irgendeine bewaffnete Gruppe uns finden würde. Dann kamen eines Nachts welche und holten zwei von uns ab. Wir wussten nicht, wohin sie sie brachten.
Am nächsten Tag gegen 4 Uhr nachts kamen die Schlepper wieder mit drei kleinen Autos und sagten, es ist jetzt Zeit, nach Europa zu reisen. Alle verbliebenen 69 Personen wurden in die drei Autos gequetscht. Wir befanden uns zu viert im Kofferraum, die ganze Strecke bis zum Strand. Ich bin fast gestorben.

 

Am Strand lag ein kleines altes Gummiboot. Und es kam noch eine zweite Gruppe Menschen. Alles in allem 102 Personen. Uns wurde gesagt, wir müssten unsere dicken Kleider am Strand lassen. Es waren dort fünf bewaffnete Schlepper und die beiden «Mitreisenden», die sie schon einen Tag zuvor abgeholt hatten. Die Schlepper hatten mit ihnen ein paar Übungen mit dem Gummiboot gemacht, weil diese beiden die Steuerung übernehmen sollten. Viele der Anwesenden sagten, sie wollten nun nicht mehr nach Europa, sie wollten auch das Geld nicht zurück. «Lassen Sie uns einfach frei gehen.» Die fünf Schlepper nahmen ihre Waffen und antworteten: «Einsteigen oder sterben?!»

Alle stiegen ins Boot. Ein Mann gab dem Steuermann einen Kompass und ein Satellitentelefon. Er sagte, er dürfe dieses nicht in Betrieb nehmen vor morgen früh. «Jetzt fahrt ihr in diese Richtung und folgt den drei Sternen bis morgen früh um neun Uhr. Dann nimmst du das Handy in Betrieb und befolgst die Anweisungen bis Lampedusa.»

Ein paar Flaschen mit Wasser und zwei mit Diesel lagen im Boot. Nicht genug Wasser für alle und fast kein Essen. Nur getrocknetes Brot gab es, aber das haben wir den Kindern gegeben. Drei Kinder waren unter uns. Es herrschte viel Stress. Einer sagte: «Losfahren, losfahren.» Ich stellte mir vor, wie wir alle sterben würden, da wir so viele Leute waren, dazu das schlechte Gummiboot, ein unerfahrener Kapitän – eine grosse Katastrophe.

Wir folgten den Sternen. Etwa um acht Uhr morgens wollte der Kapitän das Handy einschalten, aber der Akku war leer. Der Kompass zeigte keine bestimmte Richtung an. Es gab Streit zwischen den Reisenden, einige sagten: Fahren wir zurück, andere sagten: Wir fahren weiter. Wir einigten uns aufs Weiterfahren.
Gegen zehn Uhr abends stellte sich der Motor ab und startete auch nicht wieder. Etwa drei Stunden trieben wir auf offener See. Dann fing das Gummiboot an, Luft zu verlieren und Wasser drang ein. Wir versuchten, das Wasser mit den Händen abzuschöpfen, aber das hatte keine Wirkung, es kam immer mehr. Plötzlich hatte jemand die Idee, dass wir ein paar Personen ins Meer werfen müssten, damit der Rest überlebt . Ich war damit nicht einverstanden und stand auf. Ich sagte, das ist keine gute Idee. Wir sterben alle zusammen oder überleben alle zusammen. Viele sagten, ja, das ist richtig: Wir sterben alle zusammen.

 

Auf nach Sizilien

Alle hatten die Hoffnung verloren. Das war der schlimmste Tag meines Lebens. Nach langer, nervenaufreibender Zeit sahen wir auf einmal ein starkes Licht, das langsam in unsere Richtung kam. Über einen Lautsprecher sagte jemand auf Englisch: «Ruhe bewahren, nicht bewegen. Spricht jemand von Ihnen Englisch oder Französisch?»

Es war ein riesiges Schiff des französischen Militärs, das ganz langsam in die Nähe unseres Gummiboots kam.

 

Die Leute schrien: «Hilfe, Hilfe» in verschiedenen Sprachen. Vom Schiff warf man uns eine Strickleiter zu und sagten, es dürfe sich niemand bewegen. «Alle bleiben sitzen und folgen meinen Anweisungen, sonst ertrinken Sie alle.»
Sie holten uns eine*n nach dem*r anderen auf das Militärschiff. Sie fotografierten unser Gummiboot, liessen die Luft heraus, verteilten den Diesel darauf und steckten es in Brand. Uns gaben sie Wasser und fragten: «Wann und von wo seid ihr losgefahren?» Wir antworteten, dass wir gegen vier Uhr morgens von Zuara losgefahren seien und nach Lampedusa in Italien wollten. Der Kommandant teilte uns mit, dass wir uns jetzt in der Nähe von Benghazi befänden und in Richtung der Grenze zwischen Libyen und Ägypten getrieben seien. Er sagte auch: «Ihr habt Glück, dass wir hier sind. Ich melde jetzt, dass wir euch gefunden haben, und dann sehen wir, was weiterhin geschieht.» Alle riefen: «Wenn Sie uns nach Libyen schicken, springen wir alle ins Meer.»

Nach einer halben Stunde kam er wieder, um uns über die weiteren Schritte zu informieren. Alle hörten zu. «Ich habe die Rettungszentrale kontaktiert: Libyen, Tunesien und Ägypten sind keine sicheren Länder, wir dürfen euch nicht dorthin bringen. Die Rettungszentrale schickt uns nach Italien, unser Ziel ist jetzt Sizilien.» Wir freuten uns.

 

Um etwa fünf Uhr morgens fuhren wir mit dem grossem Schiff weiter. Nun fühlte ich mich sicher und hatte wieder Hoffnung. Ich schloss mich mit einem Freund dem Kochteam des Schiffes an, um Essen und Trinkwasser zu verteilen. Gegen sieben Uhr stiess das Schiff auf ein weiteres Gummiboot mit 65 Insassen. Leider war es windig und die Rettung schwieriger. Die Leute bekamen dieselben Informationen, dass sie sich nicht bewegen dürften. «Bitte bleiben Sie ruhig.» Aber als die Strickleiter hinuntergeworfen wurde, standen alle gleichzeitig auf und wollten auf das grosse Schiff. Wegen des plötzlichen Ungleichgewichts kippte das Gummiboot und alle stürzten ins Wasser. Viele waren unter dem gekenterten Gummiboot gefangen. Sofort wurden Rettungsmassnahmen eingeleitet, doch ein Mann wurde zum Schiffspropeller gezogen und tauchte nicht wieder auf.

 

Mit dem grossen Schiff waren wir etwa zweieinhalb Tage unterwegs. Dann kamen wir an die sizilianische Küste. Dort wurden wir von einer grossen Anzahl Rettungsorganisationen empfangen. Rotes Kreuz, Ärzte ohne Grenzen, der UNHCR und auch die italienische Polizei waren vor Ort. Als Erstes wurden wir von der Polizei registriert: Name, Vorname, Geburtstag und Nationalität. Es folgten medizinische Untersuchungen, Kleider und Decken wurden verteilt.

Ich und mein Freund hatten einen gültigen Flüchtlingsstatus vom UNHCR, aber wir wollten wegen des Dublin-Abkommens nicht in Italien registriert werden. Wir haben uns erfahren, dass wenn man in einem der Mitgliedstaat der Dubliner Asylvereinbarung das erste Asylgesuch stellt, man weiterhin dort bleiben muss.

Während des Abendessens kam der Cousin meines Kollegen. Er arbeitete beim Roten Kreuz. Er sagte, sein Cousin müsse unbedingt und so schnell wie möglich den Ort verlassen: «Ich werde dir dabei helfen.» Mein Freund erwiderte: «Adam ist mein bester Freund. Er muss unbedingt mit mir kommen.» Ich hatte das Gespräch verstanden, noch bevor sie übersetzten, da ich Eritreisch gut verstehe. Sie haben es mir trotzdem noch einmal auf Englisch erklärt. Der Plan war so: Der Cousin würde ein Auto für uns organisieren und uns zu seiner Wohnung in der Innenstadt bringen. Das Auto könnte nur weit weg vom Lager halten. Deshalb müssten wir direkt nach dem Abendessen das Lager zur Fuss verlassen und sehr gut aufpassen, dass uns die Polizei nicht sieht.
Als wir am Lager losliefen, merkte ich, dass die italienische Polizei kein Interesse an uns hatte. Wir liefen einfach ohne Hindernis vom Lager bis zum Auto und fuhren mit dem Auto bis zum Haus unserer Gastgeber. Dort konnten wir duschen und übernachten. Am nächsten Morgen durfte ich mit meinem eigenen Cousin in Israel telefonieren. Er überwies mir Geld mit Western Union, damit ich das Billett für die weitere Reise selber bezahlen konnte.

Adam Moussa Issaka (Autor)

Adam Moussa Issaka, 43, findet, die Bilder von Jacob Ehrbahn passen perfekt zu seinem Bericht und möchte in diesem Zusammenhang auch nicht unerkannt bleiben.

 

Jacob Ehrbahn (Fotos)

Jacob Ehrbahn, 53, ist Fotojournalist und arbeitet für die dänische Tageszeitung Politiken;
er wurde vielfach ausgezeichnet und hat das Buch «A Dream of Europe» (Dewi Lewis Publishing, 2021) publiziert, aus dem die hier abgebildeten Fotografien stammen.

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