Flucht: Menschen in Lagern
Als 2015 immer mehr Geflüchte auf den griechischen Inseln ankamen, kehrte Ioannis Repapis aus Deutschland auf seine Heimatinsel Leros zurück und half bei einer Organisation. Bis er nicht mehr konnte – und auch nicht mehr wollte.
Schon als Kind spielte Ioannis zwischen den Orangenblumen im Garten seiner Familie. Heute blühen Avocados und Guaven hinter dem eisernen Zufahrtstor vor dem blauen Familienhaus. Leriot*innen, die früher in Ägypten gelebt hatten, sollen die saure Frucht im 19. Jahrhundert auf die Insel gebracht haben. Die meisten Bäume waren schon vor 100 Jahren gepflanzt worden – bevor Ioannis’ Vater das zerbombte Haus nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufbaute. Damals fehlte eine Seite der Fassade fast komplett, und dort, wo heute Hunderte Bücher in einer kleinen Bibliothek in den Regalen stehen, schauten damals noch die Hühner aus dem Fenster.
Jede Generation, sagte Ioannis, hatte an dem blauen Haus gebaut, in dem er heute wohnte. Er kümmerte sich mittlerweile vor allem um die nachhaltige Bewirtschaftung der Zitronenbäume vor der Terrasse und die Wein- und Olivenbaumfelder rund ums Haus. Eigentlich komme es im Leben vieler Menschen, die vom kaputten System genug hätten, erst in der Mitte zu einem Bruch. «Bei mir ging das schneller», kommentiert er seinen frühen Rückzug in die Natur glucksend. Vor ihm auf dem Terrassentisch steht eine Tasse Tee neben einem dünnen Taschenbuch. Eine schwarze Katze zieht in Endlosschleife um seine Füsse.
Bevor der 32-jährige Ioannis Repapis 2016 auf seine Heimatinsel Leros zurückkehrte, arbeitete er im Bankensektor in einem Hochhaus in Frankfurt in der IT-Beratung. Als 2015 immer mehr Männer, Frauen und Kinder über die Meerenge von der Türkei auf die Insel flohen, kehrte er nach Griechenland zurück.
Erst campierten die Menschen entlang der Küste, dann wurden sie auf ein leeres, eingezäuntes Gelände gebracht, auf dem zuerst nur ein paar Polizist*innen standen. Die Regierung wollte das Lager zunächst geschlossen halten und selbst verwalten. Bis schnell klar wurde, dass es einfach zu viele Menschen waren, um sie in dem eingezäunten Bereich einzusperren. Die Verwaltung war auf humanitäre Hilfe und logistische Unterstützung angewiesen. Ioannis nahm eine Stelle als Aussendienstmitarbeiter beim Flüchtlingshilfswerk des UNHCR an, das von Anfang an auf der Insel präsent war. Fortan war er für die Logistik des neuen temporären Lagers zuständig. Zwei Jahre später, im Mai 2018, wurde er Leiter des kleinen Teams auf der Insel.
Leros ist die kleinste der fünf Ägäischen Inseln und im Winter von Lesvos nicht einfach zu erreichen, da Fährverbindungen nur sporadisch funktionieren. Viele Menschen nehmen ein Propellerflugzeug, um von einer Insel zur nächsten zu kommen. Der Flieger aus Athen musste auch bei meiner Anreise einen Zwischenhalt auf der kleinen Insel Astypalea einlegen. Nach einer halben Stunde Wartezeit in der winzigen Empfangshalle ging es zurück aufs Rollfeld und im Flieger weiter nach Leros.
Am verlassenen Flughafen mit seinen zerfransten Grasbüscheln und der abblätternden Fassade erwarteten uns vier Transitpassagiere nicht etwa Taxis auf dem Parkplatz, sondern drei Katzen und ein Strassenhund. Auf der Fahrt zu Ioannis’ Garten sah ich zu den weissen Häusern mit ihren viereckigen Fenstern hinauf, erkannte Windmühlen und Raben, die sich in den grauen Himmel schraubten, während die salzige Brandung an die steinernen Küsten schwappte. Es war eine wunderschöne Landschaft, voller Hügel mit Mandel- und Zypressenbäumen, auf denen jedes Haus wie ein Versehen und gleichzeitig wie ein Zuhause wirkte.
Bürokratische und andere Gewalt
Im November 2021, also zwei Monate nach der Eröffnung des Hochsicherheitslagers, hatte auch in Leros das «neue Kapitel des Migrationsmanagements» begonnen, wie es die Vorsitzende der EU-Task-Force Beate Gminder bei der Eröffnung des Lagers von Samos verkündet hatte. Die Isolation der, so Ioannis, «Unerwünschten», die in jeder Generation andere Namen kennt, erreichte die nächste Stufe.
«Hier sind Sachen passiert, die eigentlich nie hätten passieren dürfen», sagte Ioannis auf der Terrasse vor seinem blauen Haus. Als die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im März 2020 darauf beharrt hatte, Griechenland sei das Schutzschild Europas, habe er lange überlegt, was das bedeutete. In den wöchentlichen Meetings beim UNHCR habe es oft geheissen, effektiver Grenzschutz müsse mit den Menschenrechten vereinbar sein. An diese wohlklingenden Worte glaube er schon lange nicht mehr. Eine harte Grenze aufrechtzuerhalten, sei in der Praxis nur unter Anwendung von Gewalt gegen Menschen möglich: nur durch das Zurückdrängen von Booten auf dem Meer oder bürokratische Gewalt wie beispielsweise die Aushebelung des Rechts auf Asyl im März 2020. Vieles, was Ioannis in den letzten Jahren gesehen hatte, konnte er nicht mehr vergessen. Da waren Menschen, die keine medizinische Behandlung bekamen, weil es keinen Zahnarzt gab, der sie hätte behandeln können. Er traf Kinder, die ihre Familien im Meer verloren hatten und sich an niemanden wenden konnten. An allen Ecken und Enden fehlten die Mittel, an der humanitären Notlage vor Ort etwas zu ändern. Die eigene Arbeit, sagte Ioannis, habe sich oft angefühlt, als würde er noch die Überreste eines Hauses stützen, das schon lange zusammengebrochen war.
Obwohl auf Leros weniger Menschen ankamen als auf den anderen Inseln, steckten die Menschen nach der EU-Türkei-Erklärung vom März 2016 auch hier in ihren Asylverfahren fest. Nordmazedonien hatte am 9. März 2016 die Grenzen geschlossen, und die Umverteilung der Geflüchteten in die 27 EU-Länder ging kaum voran. Kurz nachdem im Juni 2015 Tausende Menschen die griechischen Küsten erreichten, hatte der UNHCR den Notstand für Griechenland ausgerufen und das Land in ein grosses Einsatzgebiet verwandelt. Die Organisation war danach mit 600 Personen an zwölf Standorten präsent. Doch die Abhängigkeit von den europäischen Geldgebern brachte enorme Probleme mit sich. In einem Bericht des Guardian aus dem Jahr 2017, der die Verwendung der 803 Millionen Euro Hilfsgelder in dieser Zeit untersuchte, wurde die griechische UN-Mitarbeiterin Fotini Rantsiou mit den Worten zitiert: «Anstatt sich für den Schutz von Flüchtlingen einzusetzen, haben sie [der UNHCR] aus Angst vor den politischen Konsequenzen geschwiegen. Selbst wenn sie diese Politik kritisieren wollten, die gegen ihre Prinzipien verstösst, konnten sie das nicht.» Eines der Kernprinzipien des UNHCR-Mandats, sich auch über die konsequente Kritik an den zuständigen Behörden für den Schutz von Geflüchteten einzusetzen, schien damit von Anfang an kompromittiert.
Auf Leros hatte es, wie auf den anderen Ägäischen Inseln, trotz der immensen humanitären Koordination lange Zeit an der allernötigsten Infrastruktur gefehlt. Anfangs habe es in dem Empfangslager, das in den alten italienischen Kasernen am Hafen von Laki errichtet worden war, keinen Klempner gegeben, der zum Beispiel ein verstopftes Klo reparieren konnte, und auch keinen Arzt zur Untersuchung von besonders schutzbedürftigen Personen, erzählt Ioannis. Viele Notfallsituationen hätten in einer blossen Verschiebung der Zuständigkeiten geendet, womit am Ende des Tages oft niemandem geholfen war. In Verwaltungsfragen sei oftmals das Zufallsprinzip angewandt worden, sagt Ioannis. Jeder, der gerade ein Problem sah, versuchte ad hoc eine Lösung zu finden. Wie so oft auf der Insel, etwa bei einem Waldbrand oder einem Notfall in der Nachbarschaft, half man sich gegenseitig spontan.
Wen zur Rechenschaft ziehen?
Doch angesichts der fortschreitenden Dauer des Ausnahmezustandes funktionierte diese Taktik nur eingeschränkt. Durch die Müdigkeit, die irgendwann eintrat, seien Fehler passiert, die Stimmung sei schlechter geworden, und am Schluss habe niemand mehr gewusst, wer für welchen Bereich verantwortlich gemacht werden konnte, sagt Ioannis. Gemessen an humanitären Standards hätte auch dieses Lager niemals existieren dürfen. Nachts lag Ioannis oft im Bett und fragte sich, wer dafür zur Rechenschaft gezogen werden konnte, wenn jemand starb oder keine medizinische Versorgung bekam. Was passierte, wenn die Polizist*innen Gewalt anwendeten und man selbst nichts dagegen machen konnte? Ioannis haderte zunehmend damit, ein Lagersystem zu unterstützen, das Menschen mit jedem weiteren Monat an ihre mentalen und körperlichen Grenzen brachte. «Es ist ja nicht so, dass man mit Gütern in einem Lagerhandelt, sondern mit Menschenleben», sagt er. «Auch wenn man sie auf die gleiche Art und Weise in Excel-Tabellen einträgt.»
Als die Zahl der Ankommenden im Herbst 2019 wieder anstieg, wurde es im Lager immer enger. Viele Menschen mussten in die alten Behandlungszimmer der verdreckten Psychiatrie-Ruine ziehen, auf alten Stahlgittern schlafen, ohne Strom oder sanitäre Anlagen. Kaum jemand fühlte sich mehr für die Menschen verantwortlich. Nach drei Jahren wusste Ioannis nicht mehr, warum er jeden Morgen an den Schreibtisch in seinem UNHCR-Container zurückkehrte. Er kündigte Mitte Juni 2019. «Wenn du mit dem Zweifeln beginnst, ist es Zeit zu gehen.»
Stacheldraht mit Widerhaken
Als wir den Hafen von Laki erreichten, brauten sich dichte graue Wolken über uns zusammen. Die drei Ebenen der gewaltigen Architektur hoben sich strahlend von dem schwarzblauen Hintergrund des Himmels ab. In der Mitte stand die fensterlose Ruine von Lepida, der alten «staatlichen psychiatrischen Heilanstalt», die Ende der 1990er Jahre geschlossen worden war. Darunter glänzten die Containerdächer des alten Lagers von Leros. Von einer militärischen Kaserne wurde das Gebäude später zur Anstalt für psychisch erkrankte Menschen und dessen Vorplatz schliesslich 2016 zum Hotspot für Geflüchtete, die auf der Insel ankamen. Und darüber erhob sich nun seit kurzem das neue «Closed Controlled Access Center».
Anfangs, sagt Ioannis, sei der Aufschrei gross gewesen, als die Regierung entschieden hatte, Geflüchtete in der alten Psychiatrie unterzubringen. Auch die Ärzte, die noch im offenen Teil der Anstalt arbeiteten, waren entsetzt. «Dabei», sagt Ioannis, «gewöhnt sich das Auge irgendwann an alles. Auch an neuen Maschendrahtzaun.» Im November 2021 wurden die verbliebenen Geflüchteten in das neue Hochsicherheitslager transferiert, das sich wie ein glänzendes Ufo über dem verfallenen Psychiatriegebäude in den Stein klammerte. Bei unserem Besuch im Frühling 2022 lebten hier nur mehr eine Handvoll Menschen bei einer Kapazität von 2000. Das Gelände wurde – wie auf Samos – 24 Stunden am Tag mit Kameras überwacht, der Ein- und Ausgang durch Drehkreuze geregelt. Drumherum: Stacheldraht mit Widerhaken.
Von unserem Standpunkt sahen wir – abgesehen von den beiden Polizeiwagen, die durch das Eingangstor fuhren – niemanden. Zu allen Zeiten in der Geschichte Griechenlands seien hier Menschen gestrandet, sagt Ioannis. Schon im Mittelalter wurden Leprakranke nach Leros verbannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auf der Insel ein Umerziehungslager für 30 000 Kinder geflohener oder getöteter kommunistischer Partisan*innen errichtet, und die rechtsextremistische Militärjunta, die zwischen 1967 und 1974 über das Land herrschte, internierte und folterte hier Regimegegner*innen. Auch der griechische Komponist und Schriftsteller Mikis Theodorakis, der 2021 in Athen starb und für viele Griech*innen die «Stimme des Volkes» war, sass hier ab 1967 als politischer Gefangener in Haft. In seinem Lied «Wir sind zwei, wir sind drei» heisst es: «Es tut dir weh, es tut mir weh, doch wer hat die grössten Schmerzen? Es kommt die Zeit, die es uns sagen wird.» («Πονάς εσύ, πονάω εγώ, μα ποιος πονάει πιο πολύ; Θά ‘ρθει καιρός να μας το πει.»)
Jede Epoche eine neue Form der Isolation: Ab 1957 wurden infolge eines königlichen Dekrets vom Festland Hunderte unheilbare Patient*innen mit Schiffen in die Psychiatrie auf die Insel gebracht. Der Autor Klaus Hartung schrieb noch 1989 in der deutschen Tageszeitung Taz: «Achtzig Männer mit kahlgeschorenen Köpfen, sommers wie winters nackt, an Betten gefesselt oder in kleinen Betonhöfen verwahrt, menschliche Endzustände eines Psychiatrielagers (sic!) auf der griechischen Insel Leros.»
Spuren der Geschichte
Ende der 1980er-Jahre tauchten in internationalen Medien immer grausamere Bilder auf. Schon 1981 hatten zehn Ärzte gegen die unhaltbaren Zustände in der Psychiatrie protestiert, in der die Insassen auf den Treppen schliefen und teilweise nackt angekettet waren. In den 1990er-Jahren begann eine von der EU geförderte Reform, die Anfang der 2000er-Jahre zur Schliessung der Psychiatrie führte.
Als Kind hatte Ioannis von alldem nicht viel mitbekommen. Doch er erinnert sich, dass viele Leute auf die Frage nach ihrem Beruf immer wieder «Douleuo» sagten: «Ich arbeite drinnen.» Damit hätten alle sofort gewusst, was gemeint war. In ihrer Hochphase liefen über 70 Prozent des Einkommens der Insel über die Psychiatrie. Den gleichen Satz – «Douleuo» – sage man heute, wenn man im Fluchtlager arbeitet. Die Spuren der Geschichte kamen nicht nur in den verfallenen Ruinen am Hafen, sondern auch in der Sprache der Inselbewohner*innen zum Vorschein.
Wir fuhren auf die gegenüberliegende Seite der Küste, um aus der seitlichen Vogelperspektive einen Blick auf das neue Lager zu werfen. Ioannis hielt sich die Jacke am Hals zu, um den Wind abzuwehren, und lief zum Rand des kleinen Hügels. Von hier war die Bucht von Laki gut zu überblicken. «Die Regierung sagt, wir könnten uns mit den neuen Hochsicherheitslagern sicherer fühlen. Das tue ich nicht. Im Gegenteil. Wer kann später einmal kontrollieren, was dort passiert?»
Der Text stammt aus dem Buch «Die Insel. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas» (C.H. Beck, 2023) von Franziska Grillmeier.