Fünfzehn Jahre

URS HABEGGER, 67, verkauft Surprise
seit 15 Jahren in der Bahnhofunterführung in Rapperswil. Es kommt ihm so vor, als wäre es erst seit gestern. Aber das gelte für alles. Auch für seine Geburt. Aber an die kann er sich nicht erinnern.

25.05.2023Text: Urs Habegger, Illustration: Pablo Bösch

In diesem Monat jährt sich meine Zeit als Surprise-Verkäufer zum fünfzehnten Mal. Anlass genug für ein kleines Resümee.

Zwar ist es mir, als ob er erst gestern gewesen wäre: mein erster Arbeitstag bei Surprise, nicht ohne vorher ein Bier als Mutmacher getrunken zu haben. Aber fünfzehn Jahre sind natürlich eine lange Zeit, in der viel geschehen und in der sich vieles verändern kann.

Zunehmend wird mir während meiner Arbeit von psychischen Problemen, von Depressionen, von langen Klinikaufenthalten erzählt, davon, dass die Anforderungen des Lebens zu gross geworden, der Weg zurück lange und beschwerlich ist, und dass Rückschläge lauern. Und ich wundere mich über die Offenheit und das Vertrauen, das mir die Menschen entgegenbringen.

Relativ neu ist die Frage: Haben Sie Twint? Hmmm, nein, ich habe kein Twint.

Hätten Sie Twint, könnten Sie bestimmt mehr Hefte verkaufen.

Das mag schon sein. Aber ich bin ein Grufti und ich habe vor, ein Grufti zu bleiben.

Grufti, Neandertaler oder auch Ähnliches. Ganz wie es beliebt. Von mir aus. Mir solls recht sein. Ich werde ganz bestimmt nicht böse. Und täte zu meinen Lebzeiten jemals das Bargeld abgeschafft werden: Ich würde das erste Mal in meinem Leben auf der Strasse demonstrieren, um der Sache Nachdruck zu geben mit lauten Parolen wie etwa «Das Eine schliesst das Andere nicht aus.» Ich wäre in dieser Sache bestimmt nicht der Einzige, der demonstriert.

Immerhin ernte ich mit meinen Ausführungen viel Verständnis, Beipflichten und Geschmunzel. Und trotzdem ich so ganz ohne Twint dastehe; Absatzrückgang meiner Hefte ist nicht. Schier alle haben nach wie vor Bargeld dabei. Und nicht selten kommt es vor, dass Bargeldlose, aber Willige, am nahe gelegenen Postoder Bankomaten Geld abheben, zurückkommen und mir wohlgesinnt ein Heft abkaufen.

Fünfzehn Jahre gehen nicht spurlos an einem vorüber. Auch nicht bei guter Gesundheit. Ich mag nicht mehr so wie einst. Ich kann nicht mehr so oft und so lange stehen, wie es mal der Fall war. Ich werde schneller müde und meine Erholungsphase wird länger. Ebä, es isch nümm so wie aube.

Nicht wenige meiner Kund*innen aus meinen frühen Tagen bei Surprise sind nicht mehr da. Gerne würde ich Namen aufzählen. Aber Namen von Ihnen unbekannten Menschen würden Sie nur langweilen. Ich hingegen sehe sie, die mir vertraut gewesen aber nie mehr vorbeikommen werden, vor meinen Augen, und ich wische mir eine Träne ab. Wie viel Abschied erträgt ein Mensch?

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design und Kunst, Studienrichtung Illustration.

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