In Kenia Lehrerin, in der Schweiz selbständig

Wie viele qualifizierte Migrant*innen fand Lucy Oyubo keine Arbeit, als sie in die Schweiz kam. Also machte sie sich vor 20 Jahren mit ihrer ersten Sprachschule selbständig und möchte jetzt Fahrlehrerin werden.

05.01.2024Text: Lea StuberFotos: Klaus Petrus

Foto: Klaus Petrus

Wie neu anfangen geht, das weiss Lucy Oyubo. Ihre neuste Ausbildung, jene zur Fahrlehrerin, begann sie vor vier Jahren. Oyubo fährt gerne Auto, sie mag alles an Autos, und sie hat Freude am Unterrichten, erzählt sie, gerade 56 Jahre alt geworden. Auf der Website von Hakuna Matatas, der Fahrschule, die ihr Praktikumsleiter Nyangi Matondo und Oyubo zusammen gegründet haben, schreiben sie: «Wir erklären dir alles in Ruhe und haben viel Geduld. Wir wissen nämlich, wie es ist: Als Migrant*innen hatten wir selbst wegen der Sprache Schwierigkeiten bei der Prüfung.» Neben Deutsch bieten sie Fahrstunden auf Englisch, Spanisch, Französisch, Kiswahili, Kikongo, Lingala und Luhya an.

Ein verhangener Morgen im November. Lucy Oyubo montiert einen Spiegel, so gross wie ein Smartphone, vor sich auf der Frontscheibe. Erste Fahrstunde des Tages mit Fahrschülerin Homi D’Elna, sie ist Teil von Oyubos Ausbildungspraktikum. D’Elna kam 2010 nach Abschluss des Gymnasiums aus Maroantsetra, einer kleinen Stadt im Nordosten Madagaskars, nach Basel. Bei einer Fahrschule machte sie bereits sechs Fahrstunden. An einem Fest der madagassischen Community erzählte sie einer Freundin, dass sie nun eine andere Fahrlehrerin suche. Die Freundin rief Oyubo an – und zwei Tage später sitzt D’Elna in Oyubos Fahrschulauto und kurvt aus der Tiefgarage ins Basler Quartier Gundeli.

«Okay, am Ende der Ausfahrt musst du links abbiegen. Ganz langsam aus der Garage fahren, jemand könnte auf dem Trottoir unterwegs sein, siehst du? Du bremst – und hältst an. Genau. Yeah, du hast es geschafft!»

Sie fühle sich nicht sehr wohl auf der Strasse, sagt D’Elna, sie bremse spät und ruppig. «Das üben wir heute», sagt Oyubo und lotst sie neben Lieferwagen, Bussen und Lastwagen zum Industrieareal Dreispitz.

Lucy Oyubo, in Kenia dreisprachig aufgewachsen – mit Kiswahili, Luhya und Englisch –, ist ausgebildete Lehrerin. An der Kenyatta University in Nairobi studierte sie ANZEIGE Kiswahili und Religionsphilosophie. In Kajiado, knapp 80 Kilometer südlich von Nairobi, unterrichtete sie an der Oberstufe zehn Jahre lang Englisch, Kiswahili und Religionsphilosophie. «Ich verdiente nicht viel, aber lebte gut.» Auch ihr damaliger Freund und heutiger Ex-Mann, ein Schweizer, sagte ihr: In Kenia lebst du besser als ich in der Schweiz. Dort hatte sie eine Fünf-Zimmer-Wohnung, zur Verfügung gestellt von der Schule. In der Schweiz lebte er in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Er wäre gerne nach Kenia gezogen, doch weil es für ihn schwierig gewesen wäre, dort einen Job zu finden, entschieden sie sich für die Schweiz. Oyubo, damals 33, begann Deutsch zu lernen und dachte: Diese Sprache werde ich nie beherrschen. Gleichzeitig versuchte sie, ihre kenianischen Diplome anerkennen zu lassen. Können wir nicht machen, hiess es bei der ersten Stelle. Oyubo wurde weitergeschickt, aber auch da hörte sie: Mit kenianischen Diplomen kenne man sich nicht aus. «Niemand konnte mir weiterhelfen, irgendwann gab ich auf.»

«Beschleunige auf 30 km/h – und dann: Bremsen und anhalten. Ganz gemütlich. Du musst wirklich ganz stoppen.»

Weil sie lieber Erwachsene und auch weiterhin Kiswahili unterrichten wollte, ging Oyubo nicht an die Pädagogische Hochschule, sondern nach London. Sie machte das CELTA-Zertifikat, mit dem sie überall auf der Welt Englisch unterrichten konnte. In der Schweiz erwarb sie ein Diplom zur Erwachsenenbildnerin.

In der Schweiz sei das Bild, dass Migrant*innen keine gute Bildung haben, sehr verbreitet, sagt Susanne Bachmann, Soziologin an der Fachhochschule Nordwestschweiz, in der SRF-Doku «Das ungenutzte Potenzial». Dabei widersprechen die Zahlen diesem Bild: 2022 hatten 40,3 Prozent der Migrant*innen der ersten Generation laut dem Bundesamt für Statistik eine Tertiärausbildung. Bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund waren es nur 35,3 Prozent.

Dieser Unterschied kommt vor allem aufgrund des unterschiedlichen Bildungsniveaus bei den Frauen zustande: Von den Migrantinnen der ersten Generation haben 39,6 Prozent einen Tertiärabschluss, bei den Schweizerinnen nur 29,2 Prozent. Doch Bildungstitel werden oft nicht anerkannt, teilweise wird auch die Berufserfahrung nicht ausreichend wertgeschätzt. Zu diesem Schluss kommt die Soziologin und Ethnologin Amina Trevisan in ihrer Dissertation «Depression und Biographie» von 2020. Das führt dazu, dass qualifizierte Migrant*innen häufig erwerbslos oder für ihre Arbeit überqualifiziert sind. Ihre soziale und berufliche Position ist dadurch häufig niedriger als in ihrem Herkunftsland.

Einmal wurde Oyubo zu einem Vorstellungsgespräch an eine Gewerbeschule eingeladen. Auf ihrer Bewerbung hatte sie auch ihren zweiten Nachnamen notiert, den Namen ihres damaligen Schweizer Mannes. Ob sie wirklich Frau Osterwalder sei, wurde sie gefragt. «Sie hatten eine weisse Frau erwartet. Schon während des Vorstellungsgesprächs war mir klar, dass ich die Stelle nicht bekommen würde.»

«Jetzt bis 40 km/h. Los, los, los! Stopp. Super! Das ist viel besser. Einfach das Gefühl haben: Hey, ich muss ganz sanft auf die Bremse drücken.»

In einem Raum in einem Altersheim begann Oyubo bei Pro Senectute Thurgau Englisch zu unterrichten. Der Leiter sagte neuen Kursteilnehmer*innen am Telefon: Erschrecken Sie nicht, wenn Sie in die Klasse kommen, die neue Lehrerin sieht anders aus. Als sie davon erfuhr, kündigte Oyubo.

Wir kommen mit, sagten ihre Schüler*innen, und nach drei Monaten bei Pro Senectute unterrichtete Oyubo in ihrer Stube. Als diese zu eng wurde, konnte sie vom Sohn eines Schülers günstig einen Raum mit Blick auf den Bodensee mieten. Und so gründete Oyubo das Lakeside English Centre, pro Jahr unterrichtete sie rund 500 Erwachsene in Kiswahili oder Englisch. Daneben gab sie an der Bénédict-Schule in St. Gallen Prüfungsvorbereitungskurse und unterrichtete in einer Firma in Romanshorn Englisch als Geschäftssprache.

Laut einem im Auftrag der Eidgenössischen Migrationskommission verfassten Bericht von 2019 über Migrantinnen in der Schweiz ist die Selbständigkeit eine Strategie, um mit Dequalifizierung umzugehen. So können sich Migrantinnen aus den Strukturen und Normen lösen, die in einem Betrieb dazu führen würden, dass sie nicht angestellt würden, nicht aufsteigen könnten oder ihre Stelle verlieren würden. Mit der Gründung und Führung eines eigenen Unternehmens können sie sich der Wirkung von Stereotypen entziehen und gesellschaftliche Anerkennung erhalten.

2022 waren laut dem liberalen Think-Tank Avenir Suisse bei 45 Prozent der Unternehmensgründungen Ausländer*innen beteiligt. Sie machen sich damit überproportional häufig selbständig, denn der Ausländeranteil beträgt 26 Prozent. Ähnlich sieht es etwa in Deutschland aus. Dort haben gemäss dem Global Entrepreneurship Monitor in den vergangenen drei Jahren 19,9 Prozent der Menschen mit Migrationserfahrung ein Unternehmen gegründet oder sind gerade dabei. Bei jenen ohne Migrationserfahrung waren es mit 8,3 Prozent nicht einmal halb so viele.

Irgendwann hörte Oyubos damaliger Mann auf zu arbeiten, die Ehe wurde schwierig. Oyubo trennte sich und zog aus. In dieser Zeit arbeitete sie viel, verdiente gut. Sie kaufte sich ein Auto, zog in eine grössere Wohnung. Sie hatte es geschafft.

«Jetzt bis 50 km/h. Der Weg ist frei! Geniesse es. Du fährst geradeaus, kein Problem. Dann stopp! Ja, sehr gut. Und wenn wir jetzt weiterfahren: Bevor du blinkst, was musst du machen?»

Nach zwei Jahren, in denen alles richtig gut lief, ging es Oyubo nicht mehr gut. Sie beschloss, das Lakeside English Centre zu schliessen. Ohne ihre Schule, ohne Arbeit, dazu eine Operation, das war ein schwieriges Leben, fand Oyubo. Ihre Freund*innen waren für sie da, und doch fühlte sie sich alleine mit ihrer Situation. Sie hatte keinen Mut, keine Lust mehr, irgendetwas zu machen. Zu einer Ärztin ging sie nicht, doch es fühlte sich für sie an wie eine Depression. Sie lieh Geld bei Freund*innen und nahm einen Kredit auf, bevor sie zum Sozialdienst ging. Sie wollte aus Romanshorn weg, erst ging sie nach St. Gallen zu einer Freundin, dann nach Zürich. Ein Bekannter, ein ehemaliger Schüler, gab ihr den Schlüssel zu seiner Ferienwohnung im Kiental im Berner Oberland. Drei Monate machte Oyubo dort eine Auszeit, nur mit sich und vielen Büchern. «Mir wurde klar: Du musst dein Leben weiterführen.»

Die Erfahrung von arbeitsmarktlichem Ausschluss und beruflicher Marginalisierung, die viele Migrantinnen machen, wirkt sich auf die psychische Gesundheit aus, stellt Soziologin Trevisan fest. Die berufliche Identität zu verlieren – in Kombination mit privaten und sozialen Verlusterfahrungen, finanziellen Problemen und Abstiegserfahrungen –, ist psychisch häufig belastend.

Foto: Klaus Petrus

Als Oyubo einen Bekannten in Basel besuchte, war sie begeistert. Heute, 15 Jahre später, ist die Stadt ihr Ein und Alles. Im Sommer packt sie manchmal zwei Mal am Tag ihre Kleider in den Wickelfisch, den wasserdichten Badesack, und schwimmt rheinabwärts vom Museum Tinguely bis zur Dreirosenbrücke. Viele ihrer Freund*innen lernte sie bei InterNations kennen, einem Netzwerk für Expats. Oyubo organisierte gemeinsame Abendessen in verschiedenen Restaurants, sie gingen tanzen und wandern.

Damals, nach ihrem Umzug nach Basel, fehlte Oyubo weiterhin die Energie, um selbständig zu arbeiten. Selber Sprachschüler*innen suchen, selber Rechnungen schreiben, das alles erschien ihr nun anstrengend. Sie suchte nach angestellter Arbeit – egal was, einfach irgendetwas, in der Administration etwa –, doch sie fand nichts.

Erst als sie ein paar Jahre später am Sprachenzentrum der Uni Basel Kiswahili unterrichtete, dachte Oyubo wieder darüber nach, sich selbständig zu machen. Student*innen, die Kiswahili lernen wollten, meldeten sich bei ihr, sie begann wieder in ihrer Stube zu unterrichten. Oyubo besuchte einen Kurs bei Crescenda, einem Zentrum für Existenzgründungen von Migrantinnen, und gründete mit Hakuna Matata Sprachenund Kultur-Austausch ihre zweite Sprachschule. Ihr Dilemma: In einer Grossstadt wie Basel gibt es ein grosses Angebot an Englischkursen, gleichzeitig ist die Nachfrage nach Kiswahilikursen nicht sehr gross. Oyubo versuchte, auch ausserhalb von Basel Schüler*innen zu erreichen, indem sie den Unterricht auch online anbietet. Seit November hat sie nun drei neue Kiswahilischüler*innen – einen Arzt, der nach Tansania will, eine Frau, die in Tansania Safaris anbieten will, und eine Sozialarbeiterin, die nach Kenia gehen möchte. Das sei zwar gut, sagt Oyubo. Insgesamt hat sie derzeit aber nur neun Schüler*innen. 2022 waren es gerade mal drei oder vier. Und für das Dolmetschen hat Oyubo mal mehr, mal weniger Aufträge. Seit Jahren dolmetscht sie für das Hilfswerk Heks, vor Gericht, für die AOZ (Asylorganisation Zürich), manchmal im Spital. Beim Heks hat sie eine Ausbildung für interkulturelles Dolmetschen gemacht, später auch einen CAS für Behördenund Gerichtsdolmetschen. Und doch ist das Geld meistens knapp.

«Jetzt kommt eine ganz scharfe Kurve. Langsam. Langsam! Und bleib auf deiner Spur. Das ist zu schnell. Siehst du diese Linie? Hier wolltest du die Kurve schneiden.»

Warum lässt du dich nicht zur Fahrlehrerin ausbilden, wurde Oyubo von Freund*innen immer wieder gefragt, denen sie das Parkieren beigebracht hatte. Die Ausbildung kostet allerdings viel, und wenn Oyubo bei Fahrlehrschulen anrief, sagten sie ihr: Hier sprechen wir Schweizerdeutsch. Das schaffe ich nicht, dachte Oyubo erst und wollte es dann trotzdem versuchen.

Um das erste Modul zahlen zu können, begann sie, kurz bevor die Corona-Pandemie die Schweiz erreichte, für Uber Taxi zu fahren. Oyubo hatte Spass daran. Doch manche, insbesondere ältere Gäste äusserten sich rassistisch. «Sie sind die Fahrerin?» Dann bot Oyubo ihnen den Autoschlüssel an, wollen Sie fahren? Oh! Nein. So sei das nicht gemeint gewesen.

An einem Sonntag im Januar 2020 lud eine Freundin zu einem Kleidertausch. «Eine Uber-Fahrerin? Das habe ich noch nie gesehen.» – «Du als Frau?» – «So geil!» Den anderen Frauen erzählte Oyubo von der Fahrlehr-Ausbildung, die sie gerne machen würde. Und von Modul 1, das am Freitag begann, für das sie aber nicht genug Geld hatte. Ich zahle den Rest, sagte eine der Frauen. Auch für das zweite Modul unterstützte sie Oyubo finanziell. Insgesamt kostete die Ausbildung mit den acht Modulen mehr als 35 000 Franken.

«Unser Ziel heute war, dass du sanft bremsen kannst und die Blicksystematik betätigst, bevor du abbiegst. Ich möchte, dass du nach Hause gehst und denkst: Ja, ich mache es ein bisschen besser. Dann fühlst du dich auch wohler.»

Drei Mal wechselte Oyubo die Fahrlehrschule. Das erste Mal nach dem zweiten Modul, das sie nicht bestanden hatte. «Ich verstand kein Wort.» Auch an der zweiten Schule war Schweizerdeutsch die Unterrichtssprache. Bei der Prüfung bat Oyubo die Prüfer*innen, die Fragen auf Hochdeutsch zu stellen. Ein Prüfer entgegnete: Sie sind hier in der Schweiz, hier sprechen wir Schweizerdeutsch. Danach war die Stimmung nicht mehr so gut. Zwar bestand Oyubo die Prüfung zu Modul 2 und zu Modul 3. «Doch ich konnte nicht mehr. Auch hier war ich verloren.»

Sie suchte eine neue Fahrlehrschule und hatte Glück. Denn bei der dritten war die Leiterin aus Deutschland. Als Oyubo vom Uber-Fahren genug Geld hatte, machte sie das vierte Modul. Extra für Oyubo fand der Unterricht auf Hochdeutsch statt, doch die Mitschüler*innen antworteten meistens auf Schweizerdeutsch. Sie fühlten sich auf Mundart wohler, sagten viele. «Was werden sie machen, wenn in ihrem Verkehrskundeunterricht Leute sitzen, die nur wenig oder kein Schweizerdeutsch verstehen?»

Normalerweise dauert die Ausbildung zur Fahrlehrerin bis zwei Jahre, Oyubo hat den eidgenössischen Fachausweis noch immer nicht. «Ich staune selber, dass ich trotz allem weitergemacht habe.» Als sie ein Praktikum suchte, wurde sie gefragt, ob sie denn Auto fahren könne. Oder auch: Was, Sie? Sie wollen Fahrlehrerin werden?

Irgendwann hörte Oyubos damaliger Mann auf zu arbeiten, die Ehe wurde schwierig. Oyubo trennte sich und zog aus. In dieser Zeit arbeitete sie viel, verdiente gut. Sie kaufte sich ein Auto, zog in eine grössere Wohnung. Sie hatte es geschafft.

«Jetzt bis 50 km/h. Der Weg ist frei! Geniesse es. Du fährst geradeaus, kein Problem. Dann stopp! Ja, sehr gut. Und wenn wir jetzt weiterfahren: Bevor du blinkst, was musst du machen?»

Foto: Klaus Petrus

Nach zwei Jahren, in denen alles richtig gut lief, ging es Oyubo nicht mehr gut. Sie beschloss, das Lakeside English Centre zu schliessen. Ohne ihre Schule, ohne Arbeit, dazu eine Operation, das war ein schwieriges Leben, fand Oyubo. Ihre Freund*innen waren für sie da, und doch fühlte sie sich alleine mit ihrer Situation. Sie hatte keinen Mut, keine Lust mehr, irgendetwas zu machen. Zu einer Ärztin ging sie nicht, doch es fühlte sich für sie an wie eine Depression. Sie lieh Geld bei Freund*innen und nahm einen Kredit auf, bevor sie zum Sozialdienst ging. Sie wollte aus Romanshorn weg, erst ging sie nach St. Gallen zu einer Freundin, dann nach Zürich. Ein Bekannter, ein ehemaliger Schüler, gab ihr den Schlüssel zu seiner Ferienwohnung im Kiental im Berner Oberland. Drei Monate machte Oyubo dort eine Auszeit, nur mit sich und vielen Büchern. «Mir wurde klar: Du musst dein Leben weiterführen.»

Die Erfahrung von arbeitsmarktlichem Ausschluss und beruflicher Marginalisierung, die viele Migrantinnen machen, wirkt sich auf die psychische Gesundheit aus, stellt Soziologin Trevisan fest. Die berufliche Identität zu verlieren – in Kombination mit privaten und sozialen Verlusterfahrungen, finanziellen Problemen und Abstiegserfahrungen –, ist psychisch häufig belastend.

Als Oyubo einen Bekannten in Basel besuchte, war sie begeistert. Heute, 15 Jahre später, ist die Stadt ihr Ein und Alles. Im Sommer packt sie manchmal zwei Mal am Tag ihre Kleider in den Wickelfisch, den wasserdichten Badesack, und schwimmt rheinabwärts vom Museum Tinguely bis zur Dreirosenbrücke. Viele ihrer Freund*innen lernte sie bei InterNations kennen, einem Netzwerk für Expats. Oyubo organisierte gemeinsame Abendessen in verschiedenen Restaurants, sie gingen tanzen und wandern.

Damals, nach ihrem Umzug nach Basel, fehlte Oyubo weiterhin die Energie, um selbständig zu arbeiten. Selber Sprachschüler*innen suchen, selber Rechnungen schreiben, das alles erschien ihr nun anstrengend. Sie suchte nach angestellter Arbeit – egal was, einfach irgendetwas, in der Administration etwa –, doch sie fand nichts.

Erst als sie ein paar Jahre später am Sprachenzentrum der Uni Basel Kiswahili unterrichtete, dachte Oyubo wieder darüber nach, sich selbständig zu machen. Student*innen, die Kiswahili lernen wollten, meldeten sich bei ihr, sie begann wieder in ihrer Stube zu unterrichten. Oyubo besuchte einen Kurs bei Crescenda, einem Zentrum für Existenzgründungen von Migrantinnen, und gründete mit Hakuna Matata Sprachenund Kultur-Austausch ihre zweite Sprachschule. Ihr Dilemma: In einer Grossstadt wie Basel gibt es ein grosses Angebot an Englischkursen, gleichzeitig ist die Nachfrage nach Kiswahilikursen nicht sehr gross. Oyubo versuchte, auch ausserhalb von Basel Schüler*innen zu erreichen, indem sie den Unterricht auch online anbietet. Seit November hat sie nun drei neue Kiswahilischüler*innen – einen Arzt, der nach Tansania will, eine Frau, die in Tansania Safaris anbieten will, und eine Sozialarbeiterin, die nach Kenia gehen möchte. Das sei zwar gut, sagt Oyubo. Insgesamt hat sie derzeit aber nur neun Schüler*innen. 2022 waren es gerade mal drei oder vier. Und für das Dolmetschen hat Oyubo mal mehr, mal weniger Aufträge. Seit Jahren dolmetscht sie für das Hilfswerk Heks, vor Gericht, für die AOZ (Asylorganisation Zürich), manchmal im Spital. Beim Heks hat sie eine Ausbildung für interkulturelles Dolmetschen gemacht, später auch einen CAS für Behördenund Gerichtsdolmetschen. Und doch ist das Geld meistens knapp.

«Jetzt kommt eine ganz scharfe Kurve. Langsam. Langsam! Und bleib auf deiner Spur. Das ist zu schnell. Siehst du diese Linie? Hier wolltest du die Kurve schneiden.»

Warum lässt du dich nicht zur Fahrlehrerin ausbilden, wurde Oyubo von Freund*innen immer wieder gefragt, denen sie das Parkieren beigebracht hatte. Die Ausbildung kostet allerdings viel, und wenn Oyubo bei Fahrlehrschulen anrief, sagten sie ihr: Hier sprechen wir Schweizerdeutsch. Das schaffe ich nicht, dachte Oyubo erst und wollte es dann trotzdem versuchen.

Um das erste Modul zahlen zu können, begann sie, kurz bevor die Corona-Pandemie die Schweiz erreichte, für Uber Taxi zu fahren. Oyubo hatte Spass daran. Doch manche, insbesondere ältere Gäste äusserten sich rassistisch. «Sie sind die Fahrerin?» Dann bot Oyubo ihnen den Autoschlüssel an, wollen Sie fahren? Oh! Nein. So sei das nicht gemeint gewesen.

An einem Sonntag im Januar 2020 lud eine Freundin zu einem Kleidertausch. «Eine Uber-Fahrerin? Das habe ich noch nie gesehen.» – «Du als Frau?» – «So geil!» Den anderen Frauen erzählte Oyubo von der Fahrlehr-Ausbildung, die sie gerne machen würde. Und von Modul 1, das am Freitag begann, für das sie aber nicht genug Geld hatte. Ich zahle den Rest, sagte eine der Frauen. Auch für das zweite Modul unterstützte sie Oyubo finanziell. Insgesamt kostete die Ausbildung mit den acht Modulen mehr als 35 000 Franken.

«Unser Ziel heute war, dass du sanft bremsen kannst und die Blicksystematik betätigst, bevor du abbiegst. Ich möchte, dass du nach Hause gehst und denkst: Ja, ich mache es ein bisschen besser. Dann fühlst du dich auch wohler.»

Drei Mal wechselte Oyubo die Fahrlehrschule. Das erste Mal nach dem zweiten Modul, das sie nicht bestanden hatte. «Ich verstand kein Wort.» Auch an der zweiten Schule war Schweizerdeutsch die Unterrichtssprache. Bei der Prüfung bat Oyubo die Prüfer*innen, die Fragen auf Hochdeutsch zu stellen. Ein Prüfer entgegnete: Sie sind hier in der Schweiz, hier sprechen wir Schweizerdeutsch. Danach war die Stimmung nicht mehr so gut. Zwar bestand Oyubo die Prüfung zu Modul 2 und zu Modul 3. «Doch ich konnte nicht mehr. Auch hier war ich verloren.»

Sie suchte eine neue Fahrlehrschule und hatte Glück. Denn bei der dritten war die Leiterin aus Deutschland. Als Oyubo vom Uber-Fahren genug Geld hatte, machte sie das vierte Modul. Extra für Oyubo fand der Unterricht auf Hochdeutsch statt, doch die Mitschüler*innen antworteten meistens auf Schweizerdeutsch. Sie fühlten sich auf Mundart wohler, sagten viele. «Was werden sie machen, wenn in ihrem Verkehrskundeunterricht Leute sitzen, die nur wenig oder kein Schweizerdeutsch verstehen?»

Normalerweise dauert die Ausbildung zur Fahrlehrerin bis zwei Jahre, Oyubo hat den eidgenössischen Fachausweis noch immer nicht. «Ich staune selber, dass ich trotz allem weitergemacht habe.» Als sie ein Praktikum suchte, wurde sie gefragt, ob sie denn Auto fahren könne. Oder auch: Was, Sie? Sie wollen Fahrlehrerin werden?

Lucy Oyubo lebt ein Leben zwischen vielen Jobs, rassistischen Vorurteilen und dem unbedingten Willen, nicht aufzugeben. Irgendwann wurde es Oyubo zu viel, sie brauchte eine Auszeit und erkannte: «Du musst dein Leben weiterführen.»Als Oyubo Taxi fuhr, sagte mal ein Gast: «Sie sind die Fahrerin?» Da bot sie ihm den Autoschlüssel an und fragte: Wollen Sie fahren? In eigener Sache Ankommen trotz Vorurteilen

Ab März 2024 wird Lucy Oyubo als Surprise-Stadtführerin tätig sein. Auf ihrer zweistündigen Tour durch das Quartier Gundeli in Basel führt sie die Besuchergruppen durch die verschiedenen Stationen ihres Lebens in der Schweiz: Vom Restaurant du Coeur, einem Integrationsprojekt für Migrant*innen, zum Coiffeur-Salon ihrer Kollegin aus Nigeria oder in den Quartierladen einer eritreischen Familie, die in die Schweiz geflüchtet ist und sich hier eine neue Existenz aufgebaut hat. Lucy Oyubo stellt jene Institutionen vor, die sie auf ihrem Weg in die Schweiz begleitet haben und schildert ihren Alltag zwischen vielen Dolmetscher-Jobs, rassistischen Vorurteilen, dem Engagement für ihre Community und ihrem grossen Traum, den sie hartnäckig verfolgt: eine Ausbildung als womöglich erste Schwarze Fahrschullehrerin in der Schweiz abzuschliessen.

Als Expert*innen der Strasse schaffen Lucy Oyubo und die weiteren 13 Surprise Stadtführer*innen ein Bewusstsein für die Hintergründe und Folgen von Armut und Ausgrenzung. Die Touren in Basel, Bern und Zürich sind eng mit den Biografien der Stadtführer*innen verwoben und informieren über verschiedene Themen wie Schuldenspiralen, Obdachlosigkeit, Suchterkrankung oder Arbeitslosigkeit. Die persönlichen Erfahrungen und Biografien der Stadtführer*innen werden mit Armutsstatistiken und Hintergrundwissen verknüpft. So entstehen differenzierte und authentische Einblicke in Lebenswelten, die vielen Menschen in der reichen Schweiz fremd sind.

 

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