Kein schönerer Ort

17.10.2025Klaus PetrusIllustrationen: Pirmin Beeler

Und ja, so kitschig muss der Einstieg sein: Gäbe es ihn nicht, dieser Ort müsste erschaffen werden.

Die Schüssinsel, Île-de-la-Suze, vom Bahnhof Biel dreieinhalb Kilometer östlich in Richtung Bözingen gelegen – ein Platz wie ein Gedicht. Hier wird gespielt, getanzt, gebadet, gegrillt, geküsst, geprostet, an Bäume gepinkelt. Im Sommer bricht sich das Licht zweihundertmal in der Sonne und verbreitet ein wundersam samtiges Wohlgefühl, ganz und gar ergriffen wird man davon. Katzen schnurren sich an, Hunde gehen augenzwinkernd aneinander vorbei, die Meisen zwitschern ihre Minnelieder und im Schilf freut sich ein Biber darüber und auch ein Frosch. Im Herbst drehen sich die Blätter lange im Wind, bevor sie auf den Boden fallen und diese rötlich-braunen Herzen formen, die dann, Jahre danach, aus dicken Büchern ehemals Verliebter bröseln. Und dann all die Menschen, die sich auf dieser Insel, so gross wie acht Fussballfelder, einfinden: alte, junge, dicke, dünne, grosse, kleine, Schwarze, weisse, pinkige, bärtige, bebrillte, schnatternde, dösende, nackte und verhüllte, Menschen auf Fahrrädern, mit Kinderwagen, Rollatoren oder Hundeleinen. Manche sitzen auf Bänken, lesen Danielle Steel, manche joggen so schnell wie der Wind, andere bewegen sich wie Weinbergschnecken. «Der Rücken, oje, der Rücken», klagt der Claude, «eh bon, n’exagère pas, le printemps arrivera bien!», sagt darauf Maurice, beides alte Rocker, die sich später im da Toto auf ein Glas Wein treffen, gutmütig sind sie und herzlich.

Überhaupt fällt nie ein Wort des Unmuts auf der Île-de-la-Suze, hier waltet die Freundlichkeit, und sie hat den Duft von Blaubeertee.

Natürlich übertreibe ich (ein wenig) massiv. Diese Insel ist eigentlich gar keine, aber das ist egal. Ein Inseli ist sie einewäg, emel für uns. Sechs Brücken führen auf diesen Damm, der die Form einer Schlange hat, das Kopfende eine Schleuse, der Schwanz ein 240 Meter langer und 27 Meter hoher, silbern glänzender Bau, Hauptsitz von Swatch, erbaut 2019 vom japanischen Stararchitekten Shigeru Ban. Was hier aber, so dünkt mich, niemanden interessiert. Hauptsache, es gibt diesen Hauch von einem Strand mit Liegebänken aus Holz, eine Buvette, den Spielplatz mit den kahlgeschlagenen Baumstämmen, diese exakt 600 Bäume, welche die Sandwege säumen, darunter nebst Erlen, Birken und Eichen auch Sumpfzypressen, Zitterpappeln und Lederhülsenbäume, sowie die Schilder überall, auf denen steht: «Dieser Platz steht allen Menschen offen.»

 

Und dann die Schüss, das famose Flüsschen, 43 Kilometer lang, das vom Kanton Neuenburg herkommend die Taubenlochschlucht hinunter und von dort quer durch die Stadt in den Bielersee fliesst. Ein befreundeter Fotograf – er lebte davor lange Jahre in Zürich, der arme Tropf – kommt mit seinen beiden Buben hierher, um zu plantschen, und auch Herr Ibrahim steigt an warmen Tagen mit der Familie in den Fluss, Frau und Töchter mitsamt Kleidern und Kopftuch, «das finden die anderen dann lustig», sagt der Syrer, «und wir auch».

Überhaupt kommt einem leicht die Idee, das hier sei Biel/Bienne, wie es leibt und lebt: mehrsprachig, weltoffen, schräg, urban (wer wohnt schon in Bern?), kunterbunt und multikulti sowieso, ein bisschen Berlin, in jedem Fall aber eine «ganz, ganz kleine Weltstadt», wie der grosse Robert Walser einst sagte. Und jetzt noch, seit bald zehn Jahren, mit einer eigenen Insel!

Gewiss, anders als in diesen hippen, alternativen Beizen von Biel – Le Singe, Sporting, Atomic, Rotonde, City Bar, etc. – sind die Menschen hier auf der Schüssinsel nicht weiss oder am weissesten, sondern, für SVP-Nasen wohl ein Schreck, ein wahrlich bunter und vielfältiger Haufen wie auch die Leute in den Buslinien 1, 2, 73. Und doch: Das viel zitierte Miteinander unterschiedlicher Kulturen ist hier, wie fast überall, dann doch eher ein Nebeneinander. Was nicht weiter schlimm ist, im Gegenteil. Wer will schon immer aufeinander hocken, wenn es auch mal ausreicht, sich gegenseitig mit Interesse und Wohlgefallen bloss zu beäugen, einander mit einem schlichten «Salut», «Salam» oder «Tschou» zu begrüssen, sich für einen Augenblick des kleinen Glücks zu beschnuppern, fremden Kindern den Ball zurückzuspielen, einem Velo Platz zu machen mit einem eleganten Hüpfer, oder nur schon ein Lächeln hier zu verschenken und eines dort, bis man irgendwann vielleicht zehn davon zurückbekommt.

Und dafür, ehrlich wahr, gibt es keinen anderen, keinen schöneren Ort als diesen hier, Île-de-la-Suze, die Schüssinsel von Biel/Bienne.

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