Obdachlosigkeit: Die Strassen von Nora
Ich habe eine Schwester. Die Strassen haben sie verschluckt, sind ihr eine neue Heimat geworden. Und ich habe nichts tun können.
Als Nora noch jung war, sind ihre Augen oft in die Ferne geschweift. Sie war eine Träumerin. Mein Träumerlein. Wir Schwestern taten vieles zusammen. Herrlich war das, diese Leichtigkeit. Ein grosses Haus, ein riesiger Garten. Wir einander nah und vertraut. Und das Leben noch frisch zu entdecken, einer weissen Leinwand gleich.
Ihre Haare waren aus weichem Goldgelb, sie fielen wie weiche Sanddünen über ihren magischen, oft zerstreuten Ausdruck im Gesicht, ihre grünen Augen – Smaragde ferner Geheimnisse, funkelnd. Ihre Stimme verschwand in den Räumen, war leise, schüchtern, zaghaft.
Wir erfanden als Kinder gemeinsam Geschichten, bewegten uns in eigenen Welten. Wo Steine sprechen konnten und gleichzeitig Häuser waren. Wo wir spielten, wir seien Rentner, die Beeren pflückten und dabei lustig über die Welt herumpolterten. Wir verstellten dann unsere Stimmen in die Tiefe. In diesen Welten gab es Aufgaben, bei denen man weit hüpfen musste oder tief tauchen können. Und ich liebte Nora, wie ich sie noch heute liebe. Unsere Fantasie war immer mit Humor durchtränkt. Wir lachten viel.
Manchmal lachte ich sie auch aus. Wenn sie sich nicht traute zu telefonieren, oder wenn sie mich fragte, wie man denn eine SMS schriebe. Für mich ging das alles einfach so, ganz ohne zu überlegen. Nora konnte Stunden darüber sinnieren, warum jemand so und nicht anders reagiert hatte. Oder warum eine Person nicht wie erwartet gegrüsst hatte. Sogar, warum die andere Person einen roten Pulli anhatte – immer wenn sie diese traf. Das konnte doch kein Zufall sein!
Überall in allen Ecken lauerten Details mit Bedeutungen, Verheissungen – Gefahren? Und das hatte in irgendeiner Weise immer auch mit ihr selbst zu tun. Diese zauberhafte Welt schien ihr überallhin zu folgen, sie zu beschützen oder zu beängstigen. Erst viel später realisierte ich, dass diese Dinge und Welten, die Interaktionen und die Träume in Noras Kindheit einen so anderen Anstrich gehabt hatten.
Ungeschützt im Erwachsenendasein
Das Leben holte Nora ein. Allzu bald, allzu hart. Sie fiel aus ihrer Zauberwelt in die Kälte einer für sie wenig greifbaren Realität. Die Lehre. Die Weiterbildung. Das Studium. Es prasselten so viele Eindrücke wie nie zuvor unkontrolliert auf ihre heile Insel des Aufwachsens und machten sich dort breit. Sie schwamm noch eine Weile in einer düsteren Suppe von Reizüberflutung. Bis es zu viel war. Die Fantasie fing an, Grenzen zu überschreiten. Fing an, fremde Farben in ihren Alltag zu malen. Das schon beengende Klopfen ihres Herzens zu befeuern. Zwei Jobs, ein Freund, ein Studium. Alles zu viel. Wo waren die Felsen der Kindheit, des Gehaltenseins, wo war der Sinn der Wunderwelten geblieben?
Ich begleitete meine Schwester, meine Schwester begleitete mich. Wir gaben uns gegenseitig Halt im Nichtverstehen der Welt. Fragten gegenseitig nach dem Sinn, dem Sinn von allem. Wir spielten Klavier. Sie spielte den Rhythmus und überliess mir die Melodie. Ich sang schräg, wie ein Spatz, der Nachtigall spielt. Es klang wohl wunderlich.
Immer weniger konnte Nora anderen Menschen begegnen. Jeder Kontakt wurde allmählich zur Qual. Bis sie schliesslich ganz allein in ihrem Zimmer hockte. Die Jobs hatte sie aufgegeben, den Freund verlassen, das Studium pausiert. Zurückflüchtend in Welten, die nicht mehr waren. Die nie mehr kämen. Was kam, waren Melancholie, Trauer, Depression. Jeder Schritt wog Tonnen. Das Aufstehen verschob sich in den Nachmittag hinein. Das Essen schmeckte für sie wie Plastik. Die Guetzli verloren ihre Schokoladennote. Am Klavier sass sie noch und spielte mal den Marsch der Zwerge, mal den Trauermarsch. Ich wohnte damals im gleichen Haus, wo wir aufgewachsen waren, und hörte die Töne wie einen dunklen Schauer durch die Wände fahren. Die Klänge weckten die Geister in ihr. Sie schrien die Ungerechtigkeit, die sie angesichts ihres inneren Wandels empfand, in die Leere, in die Stille. Später zog sich Nora Kopfhörer an, um zu spielen und so alles ganz nach innen zu ziehen. Ihren letzten Ausdruck der Welt zu entziehen.
Unsere Eltern wussten nicht so recht, was tun. Nora wollte sich nicht freiwillig helfen lassen. Sie machte unser christliches Aufwachsen verantwortlich für ihren Zustand. Und wenn eine erwachsene Person sich nicht selbst verletzt und auch andere nicht gefährdet dann, sagt das Gesetz, kann man nichts tun. Und so taten meine Eltern nichts, weil das Gesetz es so wollte. Auch ich tat nichts, weil ich etwas anderes nie gelernt hatte. Aber ich fing an, wie Nora in mich hineinzuschreien.
Nora schloss alles aus. Die letzten Besuche waren meine. Sie lehnte alles ab, sie verfluchte die Eltern, mich, unsere anderen Geschwister. Ich sah, wie sie litt. Ich litt mit. Doch ich hatte nie gelernt zu handeln, mächtig meiner, ihrer und anderer zu sein. Dann kam die Beerdigung einer ihrer Freundinnen. Sie sagte mir, es sei ihre letzte Freundin gewesen. Alle Kontakte waren verpackt in irgendeine schwere Wolke in einer ihrer Welten, die nun anstelle der echten immer mehr Macht gewannen. Sie überrumpelten sie. Sagten ihr, da gebe es Böses. Es wolle ihr an Hals und Kragen. Nach dem Leben trachten. Es sog sie ein, zerkaute sie. Ihre Haare zerzaust, fettig. Ihre Pupillen fahrig, die Weiten rufend.
Dann ass Nora nichts mehr. Sie vergass mehr und mehr das Leben zu fühlen, wahrzunehmen. Sie hatte aufgegeben. Sollte doch kommen, was komme … Ein Krankenwagen kam. Ich hatte ihn gerufen. Immerhin: In dieser Verzweiflung rief ich nach Hilfe. Ich rief für mich und ich rief für Nora und ich schrie für meine ganze Familie. Der Krankenwagen trug sie zur Endstation – so fühlte ich – der Psychiatrie Königsfelden in Windisch. Ein Jahr hatte Nora daheim gekämpft. Sie hinterliess ein grosses Loch in einem moderigen Zimmer, in welchem sie gehaust, gehasst, geweint und geschrien hatte.
Ich rief in der Klinik an. «Die Ärzte sind alles böse Menschen», warnte sie mich. Doch sie kämpfte nicht mehr. Medikamentenvoll aufgedunsen traf ich sie einige Monate später wieder. Menschenunwürdig. Dahindarbend.
«Ich musste das hier nähen», sagte sie zu mir und zeigte auf ein Schiff, aufgestickt auf ihrem T-Shirt. Das war nach ihrem Aufenthalt. Sie sass, bodenlos, in ihrer neuen Wohnung. Am Ende der Schweiz, an der Grenze zu Liechtenstein. Als wäre ihr die Flucht gelungen. Aber nur fast. Da fand ich sie. Verstört, ängstlich, misstrauisch. Und ich hatte noch immer nicht gelernt zu handeln und sie am Arm hochzuziehen. Nach oben, wo es ihr wieder besser ginge. Und wie sähe es da eigentlich aus, da oben? Und wie kann man jemandem helfen, die niemandem vertraut? Ich besuchte sie wenig.
Dann schlug das Schicksal nochmal fester zu. Nora hatte ihre Medikamente selbst abgesetzt. Wurde beurlaubt auf der Arbeit, die sie erst gerade angefangen hatte. Krankheitshalber. Sie erzählte mir, sie sei mit dem Velo von zuhause bis nach Zürich gefahren. Sie wisse nicht, wie sie so schnell hatte fahren können, das sei doch nicht normal. Immer wieder lachte sie, unheimlich. Und dort in Zürich gäbe es Menschen auf der Strasse, die noch nett seien. Zum ersten Mal, habe sie erfahren, dass sie sich im Sozialen, im Zusammensein aufgehoben fühle. Sie würde auch gerne auf der Strasse leben.
«Die Medikamente zerstören das Gehirn»
Nora schnitt ihre Haare. Ihr Gesicht war noch immer so unglaublich schön. Die Augen tiefgrün und wirr. Ihr Körper verstellt von den inneren Strapazen. Sie wollte weit weg sein. War in immer wiederkehrenden Denkkreiseln gefangen. Ich versuchte da hineinzukommen. Es drehte in meinem Kopf weiter. Den Magen drehte es auch. Wenn ich, lange auf sie einredend, versuchte sie davon zu überzeugen, dass es sich zu leben lohne, und ihr die Schönwetterseiten predigte, kam sie mit vehementer Stimme zurück auf ihre ursprünglichen, graue Aussagen. Immer wieder und immer wieder.
Ein anderes Mal, als ich sie besuchte, sagte sie: «Ich will nach Israel reisen, nach Golgatha und dort in alle Ecken pissen, als Rebellion gegen dieses blöde Christentum. Mich aus der Schweiz abmelden. Ich hätte einen Therapieplatz, aber wenn ich die Medikamente nicht nehme, dann kann ich nicht in diese Institution. Aber die Medikamente zerstören das Gehirn.» Sie ergänzte schleppend: «Ich spüre, wie es kocht. Meine Gedanken kochen. Alle Ärzte sind böse. Alle. Alle.» Die Worte hallten nach im gleichgültigen Weiss der Wände ihrer Zweizimmerwohnung.
Ich liess Nora ziehen. Nach Israel. Und mit ihrer Abreise kroch die Ohnmacht zurück. «Pass auf dich auf. Willst du wirklich fliegen?», hatte ich noch gesagt. «Ich will ihr alle Freiheiten geben. Ich will sehen, dass sie lebt und sich freut und dass ihre Tränen Freudentränen sind. Nicht diese bitteren Tropfen, rasend über ihre Wangen. Ich will Nora. Ich will meine Schwester zurück», schrie es in mein Inneres hinein.
Sie flog nach Israel. Oder auch nicht. Darüber weiss ich nicht viel. Später erzählte sie mir, sie sei im Ausland gewesen. Dort habe sie eine ältere Frau überfallen. Sie sei jetzt kriminell.
Nora kam noch einige Male ins Haus ihrer anderen Schwester. Die war mittlerweile verheiratet, stand fest im Leben. Sie wollte auch keine Hilfe von ihr annehmen. «Ich lebe jetzt auf der Strasse und das ist jetzt mein Lifestyle», soll sie gesagt haben. Sie bestrafte uns alle, band unsere Hände, die helfen wollten. Aber da sei noch etwas in ihrem Blick gewesen. War es Schalk, war da doch noch ein kleines Leuchten von Rebellion, Sturheit und Eigenheit geblieben? Abends zog sie immer wieder ab, blieb nie über Nacht. Für uns, ihre Familie, gab es kein Zwingen, es gab nur Ohnmacht. Schon wieder diese Ohnmacht, die uns mit dem Glauben in die Wiege gelegt worden war. Und wenn es kalt war, schauderte uns die Kälte im Wissen um diejenige auf Noras Strassen. Sie erfasste unsere Körper, rieb unsere Gedanken noch lange mit kaltem Schnee ein.
Einmal traf ich Nora in Zürich, als ich auf dem Weg zur Arbeit auf mein Tram wartete. Sie lag an der Haltestelle am Bahnhofsquai. Auf einer Isomatte, eingepackt in alles Mögliche und doch noch frierend. So lag sie, dass sie jeder sehen konnte. Mein Herz tat einen Sprung. Ich hockte mich hin und berührte den Boden. «Wann kommst du zu mir wohnen?», fragte ich sie und wusste schon, es ist aussichtslos. Ich hoffte insgeheim, dass sie nicht kommen möchte. Und schämte mich dafür. Aber nie schämte ich mich für sie. Sie lag neben mir, während ich in der Hocke sass, und war meine Schwester Nora. Und ich liebte sie, wie ich sie immer schon geliebt hatte.
Von da unten aus drehte sich der Winkel meines Blickes und ich war wieder klein. Klein in dieser grossen Stadt der hohen reichen Türme. Von herzlosen nach den Wolken kratzenden Fingern aus Grau, die dort oben wohl im Himmel des Erfolges auch das Glück zu finden hofften. Und wir waren klein und naiv und standen der Welt bettelnd gegenüber und hofften so sehr, sie würde uns für einmal Liebe schenken.
Ich müsse zur Arbeit, sagte ich. «Ich hoffe, du magst dich melden», hauchte ich hilflos und wusste, sie würde es nicht tun. Ich liess ihr meine Mütze da.
Funkstille. Nora liess uns zappeln. Drei Monate warteten wir – innen hoffend, aussen frierend. Dann ein Anruf aus Spanien. Barcelona. Man habe sie verwahrlost auf der Strasse aufgelesen. Aufgelesen, als wäre sie eine überreife Frucht.