«Draussen wird es anders sein»

13.11.2024TEXT: Lea Stuber, ILLUSTRATIONEN: Anica Lora Nižić

Mit einer Tasse Kaffee in der Hand tritt Elias, dunkle Adidas-Jacke, schwarze Jeans, in das Büro der Sozialarbeiterin in der Klinik Selhofen in Burgdorf. Die Aussicht hier oben reicht weit über die Stadtgrenzen bis zu den Emmentaler Hügeln, über denen an diesem Vormittag im Oktober Wolken hängen. Wären wir bei Netflix in einer Highschool-Serie, wäre Elias der Kapitän des Football-Teams. Nicht einer der aufdringlichen Sorte, sondern der Schüchterne, dem alle Herzen zufliegen. Dass die Sozialarbeiterin beim Gespräch dabei ist, gibt ihm Sicherheit. Er möchte Verständnis schaffen, hofft, dass Eltern und andere Angehörige von jungen Menschen, die gerade in eine Sucht abzurutschen drohen, seine Geschichte hören.

Seit neun Wochen macht Elias einen Kokain- und Benzodiazepin-Entzug. In zwei Tagen wird er austreten, dann einfach ein junger Mann sein, der bald 23 Jahre alt wird. Und so kurz vor diesem «neuen Lebensabschnitt», weg von der Klinik nach Signau in eine eigene Wohnung, ist Elias voller Vorfreude. Er strahlt eine Lust aus, eine Ernsthaftigkeit auch, er möchte wieder Stabilität finden, eine Struktur im Alltag. Erst mit einem Job bei der Stiftung Intact und dann möglichst bald mit einer Lehre, am liebsten zum Detailhandelsfachmann in einem Sportgeschäft. «Das ist der Horizont, den ich mir vorstellen kann», sagt er und klingt dabei so, wie wohl auch die Psychotherapeut*innen in seinen Therapien reden.

Es ist aber nicht alleine die Vorfreude. Da ist auch eine Zurückhaltung, eine Vorsicht, wenn Elias sagt: «Ob ich die Sucht je ganz loswerden kann – ich weiss es nicht. Noch bin ich in einem geschützten Rahmen, draussen wird es anders sein.» Dass das sein letzter Entzug ist, möchte er nicht sagen. Dafür ist er mit dem Thema zu erfahren.

Am Anfang fühle sich jeder Entzug wie ein Rückschritt an. «Es fällt mir schwer, Hilfe anzunehmen. Ich denke: Ich muss es alleine schaffen. Weil ich als Kind oft auf mich gestellt war.» Sieben Entzüge hat Elias in sechs Jahren gemacht. Der erste mit 17 war ein Benzodiazepin-Entzug, der zweite ein Alkoholentzug, jetzt ist es ein Mehrfachentzug bei Polytoxikomanie, wie das die Klinik Selhofen nennt. Elias ist nicht nur abhängig von einer Substanz, sondern von Cannabis, Benzodiazepin, Kokain, Heroin. Seit diesen neun Wochen Entzug hat er kein Cannabis, kein Benzodiazepin und kein Kokain mehr konsumiert. So lange wie noch nie zuvor, früher war er maximal einen Monat ohne Rückfall. Das Heroin substituiert er noch mit dem Medikament Subutex. Er wollte sich nicht gleich überfordern.

Immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene haben sich in den letzten Jahren für einen Entzug gemeldet, sagt Katrin Schneider von der Klinik Selhofen (siehe Interview S. 23). Auch

die Stiftung Sucht Schweiz kommt im Schweizer Suchtpanorama 2024 zum Schluss: Der Substanzkonsum von Jugendlichen bleibt hoch, bei einigen Substanzen wie Nikotin nimmt er sogar zu (siehe Text S. 8). In der Behandlung brauchen junge Patient*innen mehr Struktur, stellte die Klinik Selhofen fest und entwickelte eine Entzugsbehandlung speziell für Patient*innen von 16 bis 25 Jahren.

Jetzt sei es ihm ernst, er möchte sein Leben wirklich ändern, sagt Elias. Um sich Heroin zu beschaffen, begann er selbst Drogen zu verkaufen. Er wurde gewalttätig. Um seine Wohnung konnte er sich nicht mehr kümmern. Die Kriminalität, die Gewalt, die Verwahrlosung, er habe es satt. Von Crack, dem erhitzten und gerauchten Kokain, bekam er Asthma, er will seinem Körper nicht noch mehr schaden.

Stress und Angst
Vor seinem ersten Entzug mit siebzehn kiffte und trank Elias täglich. Dazu konsumierte er MDMA, Amphetamine und das Ben- zodiazepin Dormicum. «Ich merkte, dass Dormicum alles abstellt. Gefühle nahm ich kaum mehr wahr, weder die unangenehmen noch die angenehmen.» Mit Freund*innen in Bern bei der Reitschule oder auf der Grossen Schanze Zeit verbringen, ausgehen, neue Erfahrungen machen – dass das alles nicht nur Spass macht, sondern auch gefährlich ist, merkte Elias, als er mit dem Benzodiazepin nach einem Monat aufhören wollte. «Erst dachte ich, ich hätte bloss einen verspannten Rücken, dann merkte ich, dass es Entzugserscheinungen sind.» Als er seinem Vater, der jahrelang trank, erzählte, dass er süchtig sei und in eine Entzugsklinik wolle, wurde Elias von Gefühlen überwältigt. «Ich konnte ihm kaum in die Augen schauen und brach in Tränen aus.» Elias’ Mutter trinkt bis heute.

Vier Wochen verbrachte Elias als 17-Jähriger in der Klinik Selhofen, um von Benzodiazepin wegzukommen. Danach ging er «in das normale Leben» zurück – und konsumierte, ausser Benzodiazepin, weiter wie zuvor. Der zweite Entzug folgte zwei, drei Jahre später, so genau kann Elias das nicht sagen. Als sein Vater und seine ältere Schwester ihm beim Aufräumen helfen wollten und all die leeren Alkoholflaschen in seiner Wohnung sahen, hatte Elias einen Zusammenbruch.

In der Krisenintervention in Burgdorf wurde eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Seit Elias sich erinnern kann, haben seine Eltern getrunken. Und sie schlugen ihn wegen Kleinigkeiten, etwa wenn er mit seiner Schwester gestritten hatte. Auch die Eltern stritten sich oft. «Es war stressig, ich hatte die ganze Zeit Angst.» Elias hält inne, er braucht eine kurze Zigarettenpause.

In der Schule sagte Elias am Anfang kein Wort, er hatte Angst vor Menschen. «Was daheim passiert ist, habe ich nie in der Schule erzählt. Und dass es in der Schule nicht gut lief, habe ich daheim nicht erzählt.» Elias war ein verträumtes Kind, nicht bei der Sache. Damit wollte er sich von den traumatischen Erlebnissen abgrenzen, sagt er. Wenn er weinte, weil er geschlagen wurde, wurde es nur noch schlimmer. «Ich lernte, mir nichts anmerken zu lassen.» Elias war beim Schulpsychologen, der stellte ein ADHS fest und dass er «halt ein bisschen anders» sei. «Ich hätte Hilfe gebraucht, aber ich konnte es nicht aussprechen.» Der Hilfeschrei, sagt er heute, war der Konsum.

Darauf zugehen statt flüchten
In der Schule fiel es ihm schwer, Freund*innen zu finden. Später in Liebesbeziehungen habe er sich schwierig verhalten. «Ich wollte nicht sein, wie ich bin. Ich brauchte die Sucht, um vor mir selber zu flüchten. Und vor der Vergangenheit. Nun weiss ich: Ich muss darauf zugehen statt zu flüchten.» Einer seiner zwei engen Freunde konsumiert gerade viel Benzodiazepin. «Ich versuche ihm zu helfen, sage ihm, dass ein Entzug eine gute Sache sei. Aber ich brauche meine Energie im Moment für mich selber.» In der Klinik hat Elias eine Frau kennenglernt, sie steht an einem ähnlichen Punkt wie er. Vielleicht entsteht da gerade eine Freundschaft.

Dass die Abhängigkeit «nicht noch schlimmer» geworden ist, liege auch am Fussball, den Elias in all den Jahren weiterhin spielte. Er wollte parat sein fürs Training, konsumierte also ge- rade so viel, dass er keine Entzugserscheinungen hatte. «Das ging schon, nicht mega gut logischerweise.» Nach den Spielen trank er viel. Doch welche anderen Substanzen er noch konsumierte, fiel den meisten im Team nicht auf.

Bei der Krisenintervention in Burgdorf, seinem zweiten Entzug, dauerte es nicht lange, und Elias wurde rückfällig. So ging es ein einige Male: Er versuchte immer wieder von einer Substanz wegzukommen, schaffte es aber nicht. Nach dem sechsten Entzug vor zwei oder drei Jahren wohnte und arbeitete er bei der Stiftung Terra Vecchia. Lange lief es gut, doch dann flog er nach knapp einem Jahr raus. Er hatte Alkohol, Cannabis und Kokain konsumiert.

Und einmal mehr eskalierten die Dinge schneller, als Elias es sich eingestand. Er fuhr nach Interlaken, um Kokain zu kaufen. Dort bot man ihm an, es aufzukochen und als Crack zu rauchen – bisher hatte Elias das nie gemacht. Es gefiel ihm sehr. «Endlich spürte ich Selbstvertrauen. Die Glücksgefühle sind so gross, dass man alles andere ausblendet.»

Schon immer hatte Elias auch aus dem Grund Substanzen konsumiert, um sich überhaupt unter Menschen zu wagen. Er ging nie in den Ausgang, ohne schon vorher getrunken zu haben. Das liegt auch an einer Sozialen Phobie, weiss er inzwischen. Irgendwann brauchte er nach dem aufputschenden Crack etwas, um wieder runterzukommen. Heroin zum Beispiel. Und, nach so langer Zeit wieder, Benzodiazepin.

Während Elias nach Entzügen jedes Mal ein Stück mehr in die Drogen rutschte, machten die meisten Mitschüler*innen von früher ihre Ausbildung, schlossen sie ab, inzwischen studieren manche. «Es ist nicht gut, mir darüber Gedanken zu machen, aber manchmal denke ich, es wäre schön, hätte ich das auch geschafft», sagt Eilas. Doch das, was war, ist auch Teil von ihm. Er fällt ihm immer leichter, das zu akzeptieren.

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