Ting, ting, ting

13.11.2024TEXT: Klaus Petrus, ILLUSTRATIONEN: Anica Lora Nižić

Nachdem Matjaž Dema bereits 250 000 Franken verzockt hatte, setzte er noch einmal alles auf eine Karte.

In vielem ist es Matjaž Dema, einem Beizer aus Delémont, ergangen wie Aleksej Iwanowitsch aus Fjodor Dostojewskis Roman «Der Spieler» von 1867. Wie aus dem Nichts sind beide in einen Strudel geraten und beinahe ersoffen, sie haben die Nacht zum Tag gemacht, das Schicksal zu ihrem Schrecken, sie waren wie von Sinnen, rasend und tobend, sie haben betrogen und beschissen und als es, nach Jahren, endlich vorbei war, schien ihnen das Leben bizarr, tragisch vielleicht, in jedem Fall fremd. «Ich verstehe mich ja selbst nicht mehr!», schimpfte Aleksej Iwanowitsch, als er fix und fertig war, und Matjaž Dema schüttelt noch heute den Kopf und sagt: «Ich war ein anderer.»

Und wie Iwanowitsch hatte auch Dema, der anders heisst, beim allerersten Mal einen Lucky Punch: 1 Fünfliber Einsatz, 10 Min. zocken, 2000 Fr. Gewinn. «Den anderen sagte ich immer, lass die Finger von diesen Auto- maten, du kannst nur verlieren, so was Dämliches auch! Aber ja, da war ich angefixt. Und wie.»

Das war im Frühjahr 2000.

Drei Jahre später hatte der heute 47-Jährige 250 000 Fr. Schulden plus einen hängigen Kredit von über 100 000. Gewusst hat davon niemand, weder seine Frau noch die beiden Kinder, auch die Eltern, Verwandten und Arbeitskollegen nicht – bis auf eine Handvoll falscher Freunde, die, wie Dema, alles gesetzt und alles verloren haben.

«Nie wäre ich auf die Idee gekommen, diese 2000 einzustecken und zu sagen: gut ist. Ich wollte mehr. Aber eben. Nach zwei Tagen hatte ich das Geld verspielt. Das nahm ich der Maschine übel. Damals begann ich mit den Geldautomaten zu reden. Die meiste Zeit schimpfte und lärmte ich, man ist ja wie unter Strom. Doch manchmal sagte ich: Gutes Mädchen, oder auch: Baby, lass uns das jetzt durchziehen!»

Zu der Zeit war Dema Chef de Service in einem schicken Restaurant in der Romandie, er hatte sich hochgearbeitet, war gewissenhaft und gründlich, rundum eine Vertrauensperson. Nach Dienstschluss machte er die Kasse, zählte Franken und Rappen, legte das Geld in den

Tresor und schloss ab. Als er zu spielen begann, steckte sich Dema einen Teil des Umsatzes in seine Tasche, erst waren es hundert Franken, dann ein Bündel Tausender. In seinem Renault 19 fuhr er fiebrig ins Casino, wo er manchmal gewann und oft verlor, in Zahlen: 40 000 in den ersten fünf Monaten.

Der Lohn kam pünktlich aufs Konto, auf das auch seine Frau Zugriff hatte. Dema schwor, dieses Geld nie anzu- rühren, auch nicht das Ersparte (um die 25 000 Franken), komme, was da wolle. So würde niemand etwas erfahren, und er konnte den Schein wahren. Dass sich Dema immer öfter erst nach Mitternacht in die Wohnung schlich – manchmal wurde es halb drei –, entschuldigte er mit der vielen Arbeit. Zu seiner Frau sagte er, mit einem Seufzer untermalt: «Alles bleibt an mir hängen, Schatz. Doch bald werde ich meine eigene Beiz haben und dann wird es endlich besser.»

Immer nur lügen
Dema sagt: «Als Spieler musst du bloss drei Dinge draufhaben: lügen, lügen und lügen.»

Er wurde ein Meister darin. Verspielte er des Nachts das Geld vom Restaurant, musste er es schon anderntags wieder beisammenhaben. Denn um exakt zwölf Uhr mittags rauschte der stets gutgelaunte Besitzer heran, um es aus dem Tresor auf die Bank zu bringen. Weswegen Dema am Morgen immer früher raus musste – «die viele Arbeit, mein Schatz» –, um andere Spieler oder Kollegen, Bekannte und Verwandte anzugehen, mal waren es 500 Fr., mal 3000 oder mehr. «Gute Gründe hatte ich viele: neue Autoreifen, bös über die Stränge geschlagen, endlich mal wieder Ferien, zu viele Nutten, einem Copain aus der Patsche helfen.» Irgendwann musste sich Dema notieren, wem er was erzählte. Fragte er einen Kollegen um Geld für einen Cousin, durfte dieser von jenem nichts wissen; pumpte er seinen Vater an, musste er ihn davon überzeugen, dass Demas Frau nichts davon erfährt. Und immer sagte Dema, in spätestens drei Wochen hast du dein Geld wieder, darauf kannst du Gift nehmen. Und immer hatten sie ihm vertraut. So begann Dema hier Schulden zu bezahlen, indem er dort Schulden machte. Es war auch die Zeit, da er bereits fünf bis acht Stunden an Spielautoma- ten verbrachte – pro Tag.

Dass er süchtig sein könnte, diesen Gedanken hatte Dema lange verscheucht. Bis ihm im Casino ein Flyer in die Hände kam, darauf standen Fragen wie: Haben Sie Ihre tägliche Arbeitsverpflichtung wegen des Spielens versäumt? Führt das Spielen zu häuslichen Missstimmungen? Wollen Sie einen Spielverlust sofort zurückgewinnen? Haben Sie sich Geld geliehen, um das Spielen zu finanzieren? Verursacht Ihnen das Spielen Schlafstörungen? «Ja, ja, ja verdammt und nochmals ja, habe ich bei mir gedacht. Nur das mit dem Schlaf – damit hatte ich nie Probleme», erinnert sich Dema. «Ich kam nach Hause, spielte mit meiner Tochter, und der ganze Stress und all die Sorgen waren weg. Ich lebte in zwei völlig getrennten Welten. Was nicht anders geht, sonst frisst dich das schlechte Gewissen mit Haut und Haaren auf.»

Super Cherry über alles
Anfänglich redete sich Dema ein, er spiele, um seine Schulden zu bezahlen, und wenn er das Geld beisammenhabe, sei endgültig finito. «Alles Mumpitz. Auch wenn du an einem Abend 4000 gewinnst – was ist das im Vergleich zu 100 000 Schulden? Die Wahrheit ist, ich konnte kaum den nächsten Tag abwarten, um weiterzuspielen. Bist du einmal an der Maschine, vergisst du alles um dich herum. Dann gibt es nur noch dich – und diese grellen Farben und die metallischen Töne der Automaten. Du hälst die Luft an, schwitzt, keifst, zitterst und zeterst.»

Super Cherry 5000, so hiess Demas Liebling, erbaut von Peter Schorno und seinen Ingenieuren der Golden Games in Staad SG und bis zum Verbot der Geldautomaten ausserhalb von Casinos im Jahre 2005 fester Bestandteil der Beizen. «Start, Stopp, Start, Stopp, in Sekunden, zack, musst deinen Einsatz festlegen, dann rollen die Balken und ting, ting, ting, da-ra, da-raa, daa, daaa, daaaa-aa und entweder hast du dann 3 gleiche Früchte oder weg sind die 200 und nach einer Viertelstunde 1000.» Noch Jahre später habe er den Klang – er sagt «die Stimme» – von Super Cherry in seinen Ohren gehabt, erinnert sich Dema und kommt, während der en détail das Prinzip des Automaten erörtert, in Fahrt.

Als er bereits eine Viertelmillion private Schulden hatte, nahm Dema Stift und Papier und ging seine Optionen durch. Er sagte sich: Entweder legst du jetzt eine Beichte ab – daheim, auf der Arbeit, vor den Freunden – oder du lässt die Finger vom Zocken und kommst endlich zu Geld! Da setzte Dema, einmal mehr, alles auf eine Karte. Er nahm einen Kredit auf und kaufte ein Restaurant, von dem er wusste, dass es, sollte er es nicht total verbocken, gut laufen würde. «Nach drei Jahren Tunnel sah ich endlich eine Möglichkeit, Geld auf die Seite zu legen – nicht hier einen Hunderter und dort, sondern richtig viel.» Das Rezept dahinter, nebst gutem Wein und währschafter Küche: An den Wochenenden öffnete Dema sein Lokal für Kartenspiele, pro Stunde und Kopf nahm er 10 Fr., nach

der Sperrstunde 24. «Bei 8 Tischen à 4 Personen läppert sich das. Und dann die Automaten.» Wie in fast allen Restaurants gab es bei Dema eine Super Cherry auf Konzession, was bedeutete, dass er 50 Prozent von dem erhielt, was die Leute verspielten. Da kam ihm seine Spielererfahrung zugute, denn er wusste: Die richtig fetten Gewinne – bis 2000 Fr. – zahlen die Automaten erst aus, wenn zuvor 42 000 in sie reingestopft wurden. «Und weil ich selber nicht mehr spielen wollte, steckte ich einem Cousin kurz vor dem Limit, das mir auf einem Gerät an- gezeigt wurde, 500 oder 1000 zu. Er spielte und holte sich den Gewinn, was ja mein Geld war. Die anderen Gäste dachten, Oha!, was sie animiert hat, selber zu spielen – und nicht mehr aufzuhören.» Schon bald schaffte sich Dema, was illegal war, eine zweite Maschine an und stellte sie ins Hinterzimmer. Diesmal gehörte der ganze Gewinn ihm. Es gab Tage, so erzählt er es, da spülten ihm die bei- den Super Cherrys 3000 Fr. in die Kasse.

Dema sagt: «Die Automaten waren mein Verhängnis, die Automaten waren meine Erlösung.»

Nach eineinhalb Jahren war er seine Schulden los und nach weiteren acht Monaten hatte er den Kredit zurückbezahlt. An einem Freitag, Dema weiss es genau, beschloss er, sein Restaurant zu verkaufen. «Familie und Freunde hielten mich für verrückt, für sie war ich der erfolgreiche Beizer. Ich aber wollte abschliessen mit allem.» Vielleicht, sagt Dema, habe ihn letztlich gerettet, was ihn fast an den Abgrund brachte: Der unbändige Ehrgeiz, dieses Versessene auch, das Nicht-loslassen-Können, bevor es getan ist. «So war es beim Spielen und so war es, als ich das Restaurant hatte. Ich wollte das Geld zurück, wollte gewinnen. Und ich habe gewonnen. Ein sagenhaftes Gefühl.»

Heute geht Dema wieder ab und zu in den Spielsalon – um abzuschalten, wie er sagt. Und erzählt mit einem Schmunzeln, wie ihn unlängst der Casinoleiter bat, am Automaten Platz zu machen für andere Gäste. «Ich habe eine gute Stunde mit 50 Rappen Einsatz gespielt, das rentiert für die nicht. Da bin ich aufgestanden, habe dem guten Mann zugezwinkert und bin gegangen.»

Gutes Business mit argen Nebenwirkungen

In der Schweiz zeigen 270 000 Menschen ein sogenannt exzessives Spielverhalten, die Hälfte davon gilt als süchtig. Die Zahl der schweizweit registrierten Spielsperren liegt bei rund 80 000. Es gibt etwa 20 Spielbanken im Land – die höchste Casino-Dichte in Europa. Sie erzielten 2022 insgesamt einen Bruttospielertrag von 879 Millionen Franken, mit eingeschlossen sind die Erträge aus Online- Spielen, welche Casinos seit 2019 anbieten dürfen. Weitere 939 Millionen wurden mit Lotterie- und Wettangeboten gemacht. Die gesellschaftlichen Kosten des Glückspiels, dazu zählen der Ausfall von Arbeitsleistungen, Therapien, Gerichtsverfahren, Scheidungen, werden auf 650 Millionen Franken jährlich geschätzt. Beratung in Sachen Spielsucht unter sos-spielsucht.ch. K P

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