Treffen: In die Runde fragen
Serie: Orte der Begegnung
In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder dorthin, wo in unserer funktionalen
Welt ein leiser, selbstverständlicher, informeller Austausch stattfindet.
Stellen Sie sich vor: ein runder Tisch mit fünf Plätzen. Ein Gong. Und rund 650 Zuschauer*innen. Wir befinden uns in Deutschland, in einer mittleren Grossstadt. Das ist aber gar nicht so wichtig, denn dies könnte auch in der Schweiz stattfinden. Zumal viele Themen im deutschsprachigen Raum – so unterschiedlich die Länder auch sind – ja doch grenzüberschreitend diskutiert werden und verzahnt sind.
Um den Tisch sitzen die Gastgeber: Aladin El-Mafaalani, Soziologe mit den Fachgebieten Bildung und Migrationsgesellschaft, und Max Czollek, jüdisch-deutscher Lyriker und politischer Denker. Und ihre Gäste: Raúl Krauthausen, rollstuhlfahrender Aktivist für die Rechte von Menschen, die mit einer Behinderung leben, Kelly Laubinger, Enkelin von Holocaustüberlebenden und Aktivistin für die Rechte von Sinti und Roma, sowie Tobias Ginsburg, Theatermacher, der sich zur Recherche undercover in rechtsextreme Netzwerke begeben hat. Die Veranstaltungsreihe nennt sich «Pentagon» und die Gäste dürfen satirisch sein. Diesmal ist es eher ernst. Es wird über unsere Welt, das Leben und die politische Perspektive gesprochen. Entscheidend ist der Prozess: Jede*r bringt ein Thema mit, um es mit den anderen zu besprechen. Ist etwas abgeschlossen, wird der Gong geschlagen, alle rücken und rollen einen Platz weiter. Der Tisch ist eine Tafelrunde und das Publikum sitzt aussen herum. Die Perspektive wird gewechselt, man denkt miteinander, alles dreht und vermischt sich ein bisschen.
Übertragen wird das Spektakel per Livestream, damit auch in den Wohnzimmern zuhause alle teilhaben können. Vor Ort kostet es keinen Eintritt, man muss sich lediglich anmelden. Der Austragungsort ist eine Art grosses Quartierzentrum mit Saal. Es war ursprünglich ein Treffpunkt für die Jugend und ist es noch, mit vielfältigem Veranstaltungsprogramm. Hier gibt es neben Politik auch Ausstellungen und Konzerte, Bücher- und Flohmarkt, aber auch Kinderfeste, gemeinsames Fastenbrechen und szenische Lesungen für Hörbeeinträchtigte. Das Publikum ist durchmischt, es sitzen konservative Frauen mit religiöser Kopfbedeckung neben lokalen Politiker*innen, die jungen Wilden nippen am Getränk genauso wie Leute aus der Forschung, Journalist*innen und eine Menge Fans der auftretenden Sprecher*innen.
«Wäre dieser Ort nicht rollstuhlgängig, könnte ich nicht hier sein», konstatiert Aktivist Raúl Krauthausen trocken und zeigt, was Leben mit Behinderung in der Regel bedeutet: nämlich durch die Umwelt behindert werden. Im Publikum sind auffallend viele seinetwegen gekommen, so glaubt man zumindest wegen der Dichte an Rollstühlen, und merkt als Mensch mit noch lediglich leichter Sehschwäche, wie selten man sich begegnet. «Was für ein Verlust das ist», sagt Krauthausen laut und ergänzt, «für euch!» Alle lachen. Wie wahr er spricht. Immer noch gelingt es uns als Gesellschaft erstaunlich schlecht, Behinderungen im Alltag mitzudenken, und das, obwohl alle in ihren Leben Einschränkungen ansammeln. Allein durchs Älterwerden. Wir könnten uns so gut Inspiration und Techniken bei denen abgucken, die von früh auf damit konfrontiert sind. Solche Gedanken nimmt man mit. Inklusion heisst ja auch: Geld in die Hand nehmen. Daran führt kein Weg vorbei – und das meint nicht nur bauliche Massnahmen. Es braucht politischen Willen.
Angesichts der Rückkehr einer «Rechtder-Stärkeren»-Kultur wird dies nicht leichter werden in Zukunft. Eigentlich sitzen sie deshalb hier, die fünf mit der Perspektive derer, die (meist) nicht zur Norm gerechnet werden. Sie haben den reicheren Blick, davon ist nicht nur Krauthausen überzeugt. Und dennoch muss er in die Runde fragen, was es denn wohl brauche, damit die verschiedenen Gruppen, die als Minderheiten gelten (darunter übrigens auch immer noch: die Frauen), besser zusammenspannten und einander beistünden. Die Antwort bleibt offen. Orte, an denen solche Fragen diskutiert werden, gibt es sicher auch in der Schweiz, und wo noch einer fehlt, sollten wir einen gründen. Jetzt.