Später Abschied

Luca war oft am Hauptbahnhof Bern anzutreffen. Wenn jemand am sogenannten Rand der Gesellschaft stirbt, werden sich viele bewusst, dass sie ihn kaum je als Menschen wahrnahmen.

01.03.2024TEXT UND FOTO: KLAUS PETRUS

Und weil er fast jeden Tag dort stand, bei den Mülleimern in der Christoffelpassage beim Bahnhof Bern, wo nun Kerzen, Blumen und Briefe waren, wusste ich: Luca ist nicht mehr. Es war Mitte Januar. Ich postete auf den Sozialen Medien ein Bild, das ich vor vier Jahren für Surprise während einer Reportage über das Leben auf der Strasse in Zeiten von Corona von ihm gemacht hatte.

Es wurde hunderte Male aufgerufen, ich bekam Nach­richten von meist mir Unbekannten, die wissen wollten, was mit Luca geschehen sei. Luca und ich redeten über die Jahre zwar oft miteinan­der, aber ich wusste nicht allzu viel über sein Leben. Unsere Gespräche drehten sich meist um Alltägliches wie Dosenbier, Fünf­liber, das matschige Wetter, Krähen und Tschugger und wieso er niemals um etwas betteln würde, oder um abgedreht Tief­gründiges wie die Songtexte von Eric Clap­ton und, natürlich, die grosse Liebe.

Tage später erschien in den Berner Zei­tungen ein Nachruf auf Luca, der mit den Worten begann: «Ich kannte ihn nicht. Und doch begegnete ich ihm fast jeden Tag.» Auch jetzt meldeten sich unzählige Leute, schrieben Kommentare: Viele bedauerten, Luca nie angesprochen zu haben, manche hatten nachträglich ein schlechtes Gewis­sen, dass sie all die Jahre an ihm vorbei­ gegangen waren: «Wenn wir doch nur öfter achtsam durch die Welt gehen würden und nicht stattdessen scheu die Augen verschliessen», schrieb ein Leser. Einige empörten sich darüber, wie in der reichen Schweiz immer noch Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, andere be­schwerten sich über all die, die jetzt, nach Lucas Tod, plötzlich Mitgefühl heuchelten. «Schade, dass er erst nach seinem Tod diese Anerkennung findet», stellte einer fest.

Ich weiss es nicht mit Bestimmtheit, aber vermutlich hätte sich Luca darüber nicht einmal gewundert. Dass viele ihn sehen, ohne ihn wirklich wahrzunehmen, das hat er oft thematisiert. Und ist Ausdruck eines Phänomens, das sich häufig beobachten lässt, wenn es um Menschen am sogenannten Rand der Gesell­ schaft geht: Sie sind die sichtbar Unsichtbaren.

Sichtbar sind sie, weil wir sie ständig als Angehörige einer Gruppe wahrnehmen: Luca der «Drögeler», Luca der «Obdach­lose», Luca der «Randständige» – alles Kategorien, die in unse­rer Gesellschaft und unseren Köpfen präsent sind. Tatsächlich sind solche Bilder oder Stereotypen von Obdachlosen oder Dro­gensüchtigen eine Art Selbstläufer: Sehen wir jemanden, der unserem Bild eines Obdachlosen entspricht, reicht das schon aus, um unser Kopfkino in Gang zu setzen. Wir brauchen nicht mehr genauer hinzusehen, denn wir würden bloss darin bestä­ tigt, was wir über «so einen wie Luca« immer schon dachten.

Ob das der Wirklichkeit entspricht und mit dem Menschen hinter dem Stereotyp etwas zu tun hat, spielt keine Rolle. Um den Menschen geht es dabei also nicht, der verschwindet nach und nach. Deshalb ist Luca als Mensch für die meisten von uns unsichtbar. Und deshalb kommen wir, solange wir einzig «den Obdachlosen» vor Augen haben, nur selten auf die Idee zu fra­ gen: Wer ist diese Person eigentlich? Welche Geschichte hat sie, was ist ihr wichtig und was lästig, woran glaubt sie, wen liebt sie, wem misstraut sie, welche Lieder mag sie, hat sie einen Sehn­ suchtsort, wird sie nachts von Albträumen heimge­sucht, spürt sie Glücksmomente am Tag?

Es dürfte kein Zufall sein, dass uns der Mensch Luca erst dann interessiert, wenn wir hinter den Stereotyp blicken. Das passiert am ehesten, wenn wir diesem Menschen begegnen, am Bahnhof Bern zum Beispiel, auf ihn zugehen, mit ihm reden oder auch – wenn er plötzlich nicht mehr da ist. «Hinter jedem Randständigen steckt ein Mensch», schrieb jemand auf den Sozialen Medien nach Lucas Tod.

Was diese Stereotypen auch an sich ha­ben: Sie lassen unser Mitgefühl verküm­mern. Wenn der einzelne Mensch hinter unserem festgefahrenen Bild des Obdach­losen verschwindet, wenn wir uns also gar nicht vorstellen (können oder wollen), dass er mehr ist als die zumal negativ besetzte Rolle, in der wir ihn gerade wahrnehmen, wie sollen wir uns dann in ihn hineinverset­zen können?

Der Vorwurf einer geheuchelten Empathie, der nach Lucas Tod von einigen erhoben wurde, ist zwar nachvollziehbar, aber ungerechtfertigt: Erst wenn wir den Menschen hinter dem Stereotyp wahrnehmen, ist Mitgefühl möglich. Sehen wir ihn bloss in der Rolle des Obdachlosen, ist er sowieso nicht «einer von uns». Wo hingegen Mitgefühl im Spiel ist, kommt er uns näher, er wird uns ähnlicher. Auch das war nach Lucas Tod in den Kommentar­ spalten der Sozialen Medien immer wieder Thema: «Es sollte sich jeder bewusst sein, dass es manchmal im Leben sehr wenig braucht, um plötzlich auf der ungemütlichen Seite zu stehen», hiess es dort.

Möglicherweise brauchen wir «so einen wie Luca» auch des­ wegen, um uns selbst zu vergewissern, dass wir (noch) nicht abgestürzt sind – all diese Lucas dienen uns als abschreckendes Beispiel, als Mahnung auch. Wieso sonst hält sich das Bild vom «Randständigen» derart hartnäckig in unseren Köpfen?

Apropos Bild: Ich fragte mich immer wieder, ob das Porträt­foto, das ich vor Jahren von Luca gemacht habe und das seitdem oft in den Medien war, ihn wirklich als Menschen erfasst oder einmal mehr bloss unser Klischee von einem Obdachlosen ze­mentiert. Da wäre noch ein weiteres Foto gewesen, darauf lächelt Luca, es hätte mir selbst besser gefallen. Er sah es sich an, doch ihn störte der halboffene Mund ohne Zähne. Luca entschied sich für das andere Foto: «Bei diesem meinen die Leute vielleicht, ich hätte geweint», sagte er. «Dabei kam ich bloss aus dem Regen.»

 

 

 

Mehr zum Thema Ausgrenzung