
Polarisierung
Verlogener Kampf um Freiheiten
Haben Sie es gemerkt? Die Demokratie ist in Gefahr. Aber nicht wegen jenen Autokrat*innen und Faschist*innen dieser Welt, die ihre Zeit gekommen sehen. Sondern wegen der linken Woke-Kultur. Das zumindest wollen uns ansonsten recht besonnene Zeitgenoss*innen quer durch die Feuilletons der reichweitenstarken deutschsprachigen Medien glauben machen: im Spiegel, im Tages-Anzeiger, in der Bild-Zeitung, in der NZZ.
Sie führen einen Kampf zur Verteidigung der Meinungsäusserungs-, Kunstund Wissenschaftsfreiheit. Diese sei durch eine «Cancel Culture» in Gefahr – eine Kultur, die keine missliebigen Meinungen akzeptiere. Sie kämpfen für Grundrechte, hüten die aufklärerische Debatte und verteidigen damit etwas ganz Grosses – die Demokratie. Angeblich. Denn ihr Kampf ist verlogen. Es gibt zwar Gründe, die Woke-Bewegung zu kritisieren; auf diese komme ich später zurück. Ihretwegen aber eine Bedrohung für die Demokratie heraufzubeschwören, ist intellektuell fahrlässig und argumentativ abenteuerlich.
Von wem reden wir? Ein paar beliebige Beispiele (es gäbe viele mehr): René Pfister, US-Korrespondent des Spiegel, beschreibt in einem 250-seitigen Buch sowie auf 7 Seiten des Magazins, wie «Ideolog*innen im Namen von Gleichberechtigung und Antirassismus Meinungsfreiheit und die offene Gesellschaft bedrohen». Der ehemals linke Politiker Rudolf Strahm forderte im Tages-Anzeiger «Zivilcourage zur Verteidigung der Denkund Meinungsreiheit». Die Bild-Journalistin Judith Sevinç Basad schrieb einen Anti-Woke-Artikel nach dem anderen (sowie ein Buch), ehe sie ihren 30 000 Twitter-Follower*innen mitteilte, dass sie ihre Stelle gekündigt habe, da sie dort «nicht mehr über die Gefahren berichten» könne, «die von der totalitären, radikalen woken Bewegung ausgehen». Und NZZ-Chefredaktor Eric Gujer beklagt «Zensur», eine «Gesinnungspolizei» und einen neuen «Extremismus von links», den er sodann mit den frühen Dreissigerjahren, der Zeit vor der Machtübernahme der Nazis vergleicht. «Wiederholt sich die Geschichte?», sinniert er.
Das ist natürlich dummes, menschenverachtendes Zeug. Noch nie in der Geschichte war es einfacher als heute, jede noch so krude Meinung öffentlich zu machen – zumindest in demokratischen Staaten ohne Internetzensur. Eher scheint es so, als würden zu viele Meinungen geäussert werden, da es zunehmend schwieriger wird, Werbung von Information oder Nachrichten von Fake News zu unterscheiden. Doch das ist lediglich eine weitere Meinung.
Punkt ist: Hier, in der Schweiz, und grösser gedacht im sogenannten Westen, werden keine Meinungen unterdrückt. Meinungsäusserungsund Kunstfreiheit sind in erster Linie Abwehrrechte gegen den Staat. Und dieser «cancelt» nicht. Das Reggae-Konzert in Bern? Der Veranstalter hat es abgesagt. Der gecancelte (und nach Kritik erneut anberaumte) Vortrag einer Biologin in Berlin? Entscheid der Hochschulleitung. Die Liste liesse sich weiterführen.
Aufschlussreich, weil besonders banal, ist das Beispiel, das Rudolf Strahm zur Überzeugung kommen lässt, man müsse die «Denkfreiheit» verteidigen: Eine Philosophin hatte im Auftrag einer feministischen Ausstellung einen Text geschrieben und darin den Ausdruck «biologische Geschlechter» verwendet. Die Verantwortliche der Ausstellung wollte das Wort «biologisch» streichen, die Philosophin weigerte sich, der Text erschien nicht.
Kann man blöd finden. Aber wenn ein Ausstellungs-OK einen Text ablehnt, wenn eine Hochschule einen Vortrag absagt oder ein Veranstalter ein Konzert, dann ist das keine Zensur. Zensur ist, wenn die Polizei kommt. Oder ein Gericht einem Medium den Druck verbietet. Die Polizei kommt nicht. Medien werden nicht am Druck gehindert.
Dann spielen sie halt anderswo
Und vor allem: Wer «gecancelt» wird, kann seine Meinung jederzeit woanders kundtun. Ich schreibe auch für eine journalistische Online-Plattform. Als wir uns von einem Autoren trennten, der wiederholt unkritisch die Politik Putins verteidigte, warfen uns Dutzende Leser*innen empört Zensur vor. Aber: Dieser Mann hat kein Schreibverbot. Tatsächlich macht er seitdem auf seinem eigenen Blog weiter.
Was für Meinungen gilt, gilt auch für Wissenschaft und Kunst: Mir ist – zumindest aus dem deutschsprachigen Raum – kein Fall bekannt, wo ein*e Forschende nach derartiger Kritik nicht mehr weiterarbeiten oder nirgendwo mehr auftreten durfte. Auch wird es kein Reggaeund Rastaverbot für Weisse geben. Die Band, die von der Brasserie Lorraine in Bern ausgeladen worden war, spielt nun halt woanders. Ja, man darf sogar behaupten, ohne ihre plötzliche Bekanntheit und den links verursachten Eklat wäre sie wohl kaum ans Betriebsfest der Weltwoche eingeladen worden.
Es braucht keinen intellektuellen Scharfsinn für die Feststellung, dass es bei diesem angeblichen Kampf um Freiheiten, der die Debatten fast aller grossen Medienhäuser im deutschsprachigen Raum beherrscht, in Wahrheit um etwas anderes geht. Wichtig ist zu verstehen, wie die selbsternannten Freiheitskämpfer*innen dazu kommen, eine Konzertabsage zu einer Gefahr für die Demokratie zu stilisieren – und wie sie dabei vorgehen.

Formen der Macht
Manche glauben, dass Leute wie NZZ-Chefredaktor Eric Gujer aus Kalkül handeln. Dass es Gujer um Marktanteile geht und das Expansionspotenzial im rechtskonservativen Sektor verortet wird. Und dass er und andere darum kämpfen, den öffentlichen Diskurs weiterhin so zu gestalten, wie es ihm und der NZZ jahrzehntelang vergönnt war. Schliesslich blieben seine Ansichten lange unwidersprochen, während vieler Jahre war es okay, Minderheiten abzuwerten, und wenn sich eine*r aufregte, dann entschied immer noch die Redaktion selbst über die Publikation solcher Leser*innenreaktionen.
Das glaube ich nicht. Ich bin überzeugt, dass die Freiheitskämpfer*innen tatsächlich felsenfest davon überzeugt sind, einen ehrenwerten moralischen Kampf um demokratische Grundrechte zu führen.
Wo liegt ihr Denkfehler? Zunächst ist da eine Umdeutung von Macht. Glauben wir der Erzählung der Freiheitskämpfer*innen, dann verfügen jene, die für die Cancel Culture verantwortlich sind (vermutlich sind Minderheiten und linke Aktivist*innen gemeint, allenfalls auch Meinungsführer*innen an Hochschulen, so deutlich wird das jeweils nicht) über eine enorme Macht. Denn ohne Macht lässt sich keine Zensur durchsetzen. Dann liesse sich einfach sagen: Nein danke, da mache ich nicht mit. Klar, eine gewisse neue Form von Macht lässt sich über die sozialen Netzwerke ausüben: Mobilisierung – im verwerflichen Falle Shitstorms – kann Menschen und Organisationen unter Druck setzen. Das Ausmass der Macht lässt sich am besten vom Resultat her abschätzen. Betrachtet man also die Liste ihrer «Erfolge» (hie und da ein Vortrag oder ein Konzert abgesagt, die eine oder andere wissenschaftliche Karriere ins Stocken oder Wanken gebracht), dann merkt man schnell, dass diese Macht begrenzt ist. Ich behaupte, dass ein*e Rektor*in einer Hochschule oder Sponsor*in eines Veranstalters infolge bestehender Machtstrukturen zu Gleichem in der Lage wäre.
Demgegenüber steht die Macht jener, welche die Cancel Culture kritisieren. Sie sind in der Lage, mir nichts dir nichts Hunderttausende von Leser*innen glauben zu machen, Woke-Aktivist*innen würden die Demokratie gefährden – weil diese angeblich mächtig genug sind, um Zensur durchzusetzen. Wie blind die Freiheitskämpfer*innen für diese offensichtliche Machtdiskrepanz sind, beweist die NZZ, die den Anwalt der «gecancelten» Berliner Biologin zu dessen Strategien befragt. Unter anderem wende er sich an die Presse, erzählt dieser. «Sie versuchen eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen?», fragt die NZZ nach. Was der Mann natürlich bejaht. So einfach geht das: Die sozialen Medien sind die neue Öffentlichkeit, Leitmedien wie die NZZ die neue Gegenöffentlichkeit.
Die Freiheitskämpfer*innen machen den Fehler, die öffentliche Debatte als ausgewogen zu betrachten. Darum nehmen sie es nicht als legitim wahr, wenn Minderheiten lautstark Mitsprache einfordern. Dabei ist die öffentliche Debatte nicht ausgewogen, sie war es noch nie. Randgruppen – sozial Schwache, Homosexuelle, trans Menschen, Menschen mit Migrationsgeschichte, ja auch Frauen – waren lange unterrepräsentiert und sind es häufig heute noch. Durch das Internet, insbesondere die sozialen Medien, haben sie jenseits der etablierten Minderheitenvertretungen eine Stimme erhalten und drängen in den Diskurs. Was die Freiheitskämpfer*innen als «Extremismus von links» sehen, sind in Wahrheit Bevölkerungsteile, die bislang weniger gehört wurden.
Gänzlich unbemerkt bleiben diese argumentativen Tricksereien (oder unbeholfenen Gegenwartsanalysen – Ansichtssache) nicht. Letztes Jahr verliehen die Neuen deutschen Medienmacher*innen die «Goldene Kartoffel» – eine Auszeichnung für besonders schlechte journalistische Leistungen – gleich an alle «bürgerlichen Medien» Deutschlands. Und zwar für die «unterirdische Debatte über Identitätspolitik». Dieser Begriff meint die Versuche von Minderheiten (z.B. Feminist*innen, Migrant*innen, Schwarze oder queere Menschen), gesellschaftliche Verbesserungen für ihre jeweiligen Interessengruppen zu erreichen. Kritisiert wird, dass diese Gruppen zur Spaltung der Gesellschaft beitragen, indem sie sich primär für sich selbst einsetzen. (Was zum Beispiel Wirtschaftslobbyist*innen zum Glück nicht unterstellt wird.)
In ihrer Begründung bezeichneten die Medienmacher*innen das Verhalten der Medien als «Wahrnehmungsstörung». Nach den rechtsterroristischen Anschlägen von Halle und Hanau, dem Mord an Walter Lübcke und dem Einzug von Rechtsextremen in sämtliche deutsche Parlamente sei ernsthaft darüber sinniert worden, ob linke Identitätspolitik das harmonische Zusammenleben bedrohe. «Nur wenige Monate nach der Black-Lives-Matter-Debatte haben sich im Frühjahr 2021 fast alle Medien in Deutschland gefragt, ob People of Color und Schwarze Menschen mit ihrem Antirassismus nicht doch zu weit gehen.»
Das heisst: Werden Machtverhältnisse verdreht, dann lassen sich ungeniert Tabus brechen – wie etwa mit dem Finger auf die Schwächsten zu zeigen. Auch Spiegel-Autor René Pfister argumentiert, dass die Minderheiten und die Linken schuld sind an der Spaltung der Gesellschaft und nicht etwa die Rechtsextremen der Alternative für Deutschland (AfD) beziehungsweise Trump in den USA. Im Wahlkampf 2016 schon hatte Hillary Clinton das Kind beim Namen genannt, als sie einen Teil von Trumps Wählerschaft als «sexistisch, homophob, xenophob und islamophob» bezeichnete. Sie sprach, ebenfalls abwertend, von einem «basket of deplorables» (zu Deutsch in etwa «Korb der Erbärmlichen»). Pfister sieht diese Aussage als exemplarisches Beispiel dafür, warum sich Wähler*innen von den Demokrat*innen abund Trump zuwandten. Nicht Trump oder dessen Anhänger*innen sind für den US-Korrespondenten des Magazins Spiegel verantwortlich für ihre eigene Radikalisierung, ihren Rassismus, ihren Sexismus. Sondern die Linken, die sie beleidigt haben.
Die Verdrehungen der Freiheitskämpfer*innen nehmen zunehmend verschwörerisches Ausmass an. Auffällig ist zum Beispiel die Sprache. Statt «Meinungsäusserungsfreiheit» wird irreführend der Begriff «Meinungsfreiheit» oder gar «Denkoder Sprechverbote» verwendet, zum Angriff geblasen wird gegen eine «Gesinnungspolizei». Als ob Minderheiten nicht nur bestimmen wollten, wie wir reden, sondern ins Innere unserer Köpfe vordringen würden, um eine Art Gehirnwäsche vorzunehmen. (Wie es beispielsweise über chinesische Umerziehungslager berichtet wird, um eine Relation zur Grösse dieses Vorwurfs zu schaffen.)
Typisch Verschwörung ist auch die Quasi-Wissenschaftlichkeit. Da die Freiheitskämpfer*innen offenbar um die Steilheit ihrer These wissen, dass die Cancel Culture nichts weniger als die Demokratie bedrohe, haben sie sich – zusätzlich zu einer ganzen Reihe von Hochschulprofessor*innen, die sich stets um die freie Rede besorgt geben – angeblich wissenschaftliche Evidenz besorgt. Damit der Schritt von «die Wissenschaftlerin wieder auszuladen, finde ich nicht in Ordnung» hin zu «Cancel Culture ist die grösste Gefahr für die Demokratie» (O-Ton des deutschen CDU-Spitzenpolitikers Friedrich Merz) logisch erscheint. Der Beweis heisst: die Schweigespirale. Diese von Elisabeth Noelle-Neumann in den 1970er-Jahren formulierte Theorie aus der Soziologie besagt, dass wir dazu tendieren zu schweigen, wenn wir glauben, unsere Meinung weiche von der Mehrheitsmeinung ab.
Ein Hauch von Wissenschaft
Mit der Schweigespirale-Theorie begründet etwa die Ex-Bild-Journalistin Judith Sevinç Basad in ihrem Buch «Schäm dich!» die Relevanz ihres Kampfes: «Die Schweigespirale hat (...) fatale Auswirkungen. So können sich radikale und ideologische Randmeinungen, die nicht der gesellschaftlichen Mitte entsprechen, zur Mehrheitsmeinung entwickeln», behauptet sie. Und die Philosophin Ulrike Ackermann, ihres Zeichens Co-Gründerin des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit, das sich gegen Cancel Culture im Wissenschaftsbetrieb einsetzt, hat die angeblich so fatale Theorie gar als Buchtitel gewählt: «Die neue Schweigespirale – Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt». Sie schreibt: «Die neue Schweigespirale funktioniert deutlich drastischer als das, was wir bisher kannten.»
Weder Basad noch Ackermann haben sich aber ernsthaft mit der Theorie auseinandergesetzt. Ich habe die beiden eben zitierten Sätze dem Zürcher Medienprofessor Thomas Friemel geschickt und ihn gefragt, was er davon hält. Beide Aussagen würde er so «nie sagen», er hält sie ausserdem für wenig reflektiert. Zwar liessen wir uns unbestritten von der Wahrnehmung unseres Umfelds beeinflussen. Aber: «Die empirischen Evidenzen für eine Schweigespirale im grossen Stil sind schwach, veraltet und kaum belastbar.» Und bei den sozialen Netzwerken liege dasProblem eher in der algorithmischen Selektion und nicht bei der Schweigespirale.
Fakt ist: Die Schweigespirale ist eine Theorie, die wissenschaftlich nie eindeutig bestätigt wurde. Zwar gibt es Indizien, die ein gewisses Konformitätsverhalten von Menschen nahelegen – so sorgt zum Beispiel der Bandwagonoder Mitläufer-Effekt dafür, dass unentschlossene Wähler*innen aufgrund von Umfrageresultaten vor Abstimmungen zur Gewinner*innenseite wechseln. Diese Effekte sind jedoch nie stark genug, um eine Art kollektives Umdenken zu bewirken. Kommt dazu: Die Öffentlichkeit besteht nicht allein aus sozialen Netzwerken. Einen Konformitätsdruck gibt es nicht nur auf Twitter, wo Woke-Aktivist*innen mutmasslich in der Überzahl sind. Am Esstisch einer Bauernfamilie oder am Betriebsfest der Weltwoche würde ich keine Brandrede für das Gendersternchen halten. Wenn überhaupt, dann wirkt die Schweigespirale viel komplexer und mit Bestimmtheit nicht so einseitig wie von den Freiheitskämpfer*innen dargestellt. Die dramatische Erzählung von der Schweigespirale überschätzt die Macht der Medien massiv und passt darum in ihr verschwörerisches Weltbild.

Politischer Kampfbegriff
Die Neuen deutschen Medienmacher*innen stellen klar, dass es sich bei der Debatte um Cancel Culture und Identitätspolitik um eine rechtsextreme Erzählung handelt. Diese diene einzig dazu, die Stimmen von Feminist*innen, Schwarzen Menschen, Migrant*innen, behinderten oder queeren Menschen usw. zu delegitimieren. In rechtsextremen Foren sei es schon länger gang und gäbe, gegen angeblich allmächtige «identitätspolitische» Minderheiten zu hetzen. Diese Erzählung werde nun durch bürgerliche Medien salonfähig gemacht.
Tatsächlich macht die politische Rechte in Europa und den USA gerade mit der Gesellschaftspolitik mobil. Sie versammelt sich gegen eine «Genderideologie». Vertreter*innen rechter Parteien äussern sich mittlerweile häufiger über Feminismus und Gender als solche von links, wie eine Studie aus sieben Ländern Westeuropas zeigt, die zwischen 2016 und 2020 durchgeführt wurde. Die Anti-LGTBQI*-Gesetze in Polen, Ungarn und den USA sind erste Folgen dieser Entwicklung. Doch warum lässt sich mit dem Angriff auf die Woke-Kultur derart gut mobilisieren? Und warum lassen sich derart viele Menschen hinter einer offensichtlich antiprogressiven Bewegung versammeln?
Möglicherweise aus zwei Gründen: Der eine ist eine Abwehrhaltung aus Überforderung. Der andere ist der Widerwille, gewisse Privilegien aufzugeben. Zunächst sollten wir uns vom Begriff der Cancel Culture verabschieden. Dieser ist ein politisches Kampfwort, ein recht billiges noch dazu. Sein Erfolg liegt gerade darin, dass es derart vage und diffus bleibt, dass es lediglich anprangert und keine Lösungen präsentiert, ja gar nicht präsentieren kann. Denn: Was könnten wir denn tun, um die Cancel Culture zu stoppen? Wir könnten Hochschulen oder Konzertveranstalter*innen vorschreiben, unter welchen Bedingungen sie Gäste einund ausladen dürfen. Oder die sozialen Netzwerke für linke Aktivist*innen sperren, damit diese keinen Druck ausüben können. Beides ist natürlich unsinnig, da es einer Zensur gleichkäme.
Gibt es, wo es keine Lösungen gibt, überhaupt ein Problem? Es geht, wie gesagt, um etwas schwer Fassbares, um Kultur eben. Und wir ändern unser Verhalten nicht nur aufgrund rechtlicher Verbote, sondern auch wegen sozialem Druck. Und dieser kann sehr unangenehm sein. Ich auf jeden Fall mag ihn überhaupt nicht. Schon so habe ich ständig das Gefühl, nicht zu genügen. Ich sollte mehr und besser arbeiten, müsste mehr Zeit mit den Kindern verbringen, ihnen mehr mitgeben auf ihrem Weg, daneben sollte ich sinnvollere Hobbys pflegen, müsste öfter für Angehörige da sein und mehr in Freundschaften investieren. Dass ich nun auch noch moralisch Fortschritte machen muss, meine Sprache anpassen, mein Verhalten hinterfragen, das empfinde ich schnell als zu viel. Ich bin mit dem Grossziehen von drei Kindern beschäftigt, muss Geld verdienen, dafür sorgen, dass genug Essen im Kühlschrank ist und die Fruchtfliegen in der Küche nicht überhand nehmen. Und ich bin privilegiert, ich bin gesund und verdiene genügend Geld. Andere haben viel existenziellere Sorgen: Schulden, Krankheit, Lebenskrise.
Was ich damit sagen möchte: Immer und überall woke zu sein, überfordert viele. Dieses moralische Wetteifern, immer perfekt sein zu müssen, passt letztlich gut in den Selbstoptimierungswahn unserer neoliberalen Leistungsgesellschaft. Dem möchte ich eigentlich entkommen. Mir dann vorwerfen zu lassen, ich sei ein Rassist, einfach weil ich aus Unwissen einen Fehler gemacht habe, empfinde ich als unfair. Aber nur weil ich mit dem Tempo nicht mitkomme, heisst das nicht, dass ich die Sache per se bekämpfe. Trotzdem ist das kein Grund dafür, sich gegen die Anliegen und die Rechte von Minderheiten zu stellen.
Der zweite mögliche Grund, warum viele sich dem Kampf gegen «Genderideologie» und andere Minderheitenrechte anschliessen, ist banaler: Weil sie dadurch tatsächlich Freiheiten verlieren. Allerdings handelt es sich dabei nicht um demokratierelevante Grundrechte, sondern vielmehr um das «Privileg», andere ungescholten belästigen oder diskriminieren zu können, also zum Beispiel jemanden als «schwul» zu beschimpfen, einer Frau ungefragt an den Hintern zu fassen, rassistische Witze zu machen. «Früher eckte man mit sexistischen Gedichten nicht an – das ist Freiheit, aber eben nur aus dieser Perspektive», schreibt der Politologe Karsten Schubert.
Diese Dinge sozial zu ächten, ist nicht antiliberal, sondern entspricht der Umsetzung von Menschenrechten und der Verfassung, die vor ebensolcher Diskriminierung schützen soll. Die Tatsache, dass Emanzipation für manche tatsächlich Privilegienverlust und Einschränkungen mit sich bringt, müsse als solche anerkannt werden, schreibt die Soziologin Franziska Schutzbach im Online-Magazin Republik: «Die Herstellung von Gerechtigkeit, Inklusion und Teilhabe ist nicht einfach ein formaler Verwaltungsakt, über den sich alle freuen und von dem alle gleichermassen profitieren.» Schliesslich geht es nicht allein um die Frage, wie wir möglichst diskriminierungsfrei miteinander sprechen und umgehen. Wenn beispielsweise eine Quote für mehr Frauen in Führungspositionen sorgen soll, bleiben diese Plätze für männliche Aspiranten unerreichbar.
All jene, die sich aus solchen letztlich selbstgerechten Motiven für die Cancel-Culture-Kampagne einspannen lassen, sollten wissen: Nein, die angeblichen Freiheitskämpfer*innen führen keinen Kampf zur Verteidigung von Grundrechten oder der Demokratie. Sie treten an in einem Kulturkampf, der sich gegen Vielfalt und Gleichberechtigung richtet. Ihr bestes Argument ist dabei eine verschwörerische Erzählung, die von übermächtigen Minderheiten handelt, welche unterstützt durch eine linke Elite angeblich nahe daran sind, Denkund Sprechverbote durchzusetzen.
Dieser Kulturkampf dürfte zu einer der prägenden politischen Dynamiken unserer Zeit werden, wie der Autor Benjamin Hindrichs bei ZEIT-Campus schreibt. Und er dürfte sich weiter zuspitzen. Aus der Soziologie bekannt ist das sogenannte Tocqueville-Paradox: Debatten um soziale Gerechtigkeit werden umso lauter geführt, je mehr Teilhabe in einer Gesellschaft möglich ist. Der deutsche Soziologe Aladin El-Mafaalani prägte diesen Mechanismus im Zuge der aktuellen Diversitätsdebatte neu als «Integrationsparadoxon». Anders gesagt: Je gleicher eine Gesellschaft wird, desto empfindlicher wird sie zunächst. Denn wenn mehr Bevölkerungsgruppen miteinander den gesellschaftlichen Konsens aushandeln, entsteht auch mehr Reibung. Und zwar ganz einfach darum, weil es überhaupt erst zu Kritik und Empörung kommen kann, wenn die Stimmen von marginalisierten Gruppen gehört werden.
Für Soziologin Schutzbach bringt das eine gute und eine schlechte Nachricht mit sich. Die gute: Die mitunter gehässige Debatte zeige, wie weit wir schon gekommen sind im Kampf für eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft. Die schlechte: Es wird noch viel mehr gerungen werden müssen. Die Gegner*innen einer gerechteren Gesellschaft dürften Grundrechte und Demokratie also noch länger als Argumente bei ihrem Versuch missbrauchen, Minderheiten zum Schweigen zu bringen.
Kommentar: Eine jahrzehntealte Kampagne
Cancel Culture ist keine neue Erscheinung, sondern eine jahrzehntealte Kampagne. So argumentiert Stanford-Professor Adrian Daub in seinem Buch «Cancel Culture – Wie eine moralische Panik die Welt erfasst». Die Warnung vor drohenden Denkverboten findet sich bereits im 1985 erschienenen Buch «The Closing of the American Mind» von Allan Bloom. Seither sind zahlreiche Bestseller veröffentlicht worden, die anhand einer kleinen Anzahl von Vorgängen an Colleges oder Universitäten eine angebliche Welle linker Intoleranz diagnostizieren. Diese Bücher hätten alle dieselbe Masche, so Daub. «Die dystopische Zukunft, die sie entwerfen, ist nie Wirklichkeit geworden.» Alles, was man angeblich bald nicht mehr tun dürfe, tue man noch heute.
Dass Cancel Culture ideologisch gesteuert wird, steht für Daub ausser Frage. Schliesslich gebe es dazu keine Daten, sondern ausschliesslich Anekdoten. In den USA existiere eine ganze Infrastruktur, die einzig dafür da sei, solche Anekdoten aufzutreiben. Bereits 1995 beschrieb John K. Wilson in «The Myth of Political Correctness», wie reiche US-Sponsor*innen in den 60erund 70er-Jahren Stiftungen und Institutionen schufen, die aktiv nach Geschichten rund um Political Correctness suchten.
Daub sieht auch ein Versagen der Medien in der Tatsache, dass sie gegenüber diesen Fakten historisch blind sind. «Vielleicht fällt es den Zeitungen einfach nicht auf, dass sie sich zu Handlangern und Verstärkern ideologisch motivierter Realitätsverdrehungen machen.»