«Von wegen selber schuld»

Wer Schulden hat, wird im Recht systematisch benachteiligt, sagt Anwältin Rausan Noori. Sie fordert zudem mehr Aufsicht über die Inkasso- und Kreditbranche.

21.05.2021Interview: Andres Eberhard

RAUSAN NOORI, 38, ist Rechtsanwältin in Zürich, spezialisiert unter anderem auf Konsumkredite, Inkasso, Betreibungen und Sanierungen. Sie ist Autorin diverser Fachartikel rund ums Thema Überschuldung und Co-Autorin eines neuen Handbuches über das Konsumkreditgesetz. PDF kostenlos auf: konsumkreditgesetz.ch

 

Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt. Mit Schulden finanzieren wir Häuser, Autos, Handys. Wo ist das Problem?
Schulden sind nicht ein Problem per se – Überschuldung aber schon. Es gibt keine eindeutige Definition dafür. Ich halte es mit dem Soziologen Maurizio Lazzarato: Schulden sind ein Mechanismus der Macht. Durch Schulden und Zinsen geraten Menschen in Abhängigkeit.

Wer profitiert?
Vor allem die privaten Gläubigerinnen, also Firmen, Banken, Versicherungen. Auch für Krankenkassen sind die Gesetzgebung und das Betreibungssystem günstig. Weniger gut ist es für die Allgemeinheit. Denn Steuerbehörden gehen im Betreibungsverfahren oft leer aus, vor allem wenn grössere Schulden bestehen, die schneller fällig sind – etwa aus Barkrediten. Die grössten Verlierer*innen des Systems sind aber die Schuldner*innen.

Warum?
Sie werden im Recht klar benachteiligt. Schauen Sie nur einmal auf das Betreibungsrecht. Ich kenne kein anderes Land, in dem ich Sie betreiben kann, ohne dass ich nachweisen muss, dass tatsächlich eine Schuld besteht. In der Schweiz liegt es dann an den Schuldner*innen, sich gegen ungerechtfertigte Forderungen zu wehren. Sie müssen dafür sorgen, dass der Eintrag im Betreibungsregister wieder verschwindet. Tun sie es nicht, können sie ernsthafte Probleme bei der Job- oder Wohnungssuche bekommen. Das Betreibungsamt sollte eine Vorprüfung vornehmen, so wie es in anderen Ländern üblich ist.

Warum geschieht das nicht?
Aus administrativen Kosten. Betreibungsämter sollen ein gutes Ergebnis erzielen, so der politische Wille.

Haben Sie weitere Beispiele dafür, dass Schuldner*innen juristisch im Nachteil sind?
Steuerschulden sind hierzulande aus mir unerklärlichen Gründen nicht Teil des Existenzminimums, entgegen beispielsweise Krankenkassenprämien, die auch periodisch geschuldet sind. Das ist für Schuldner*innen ein grosses Problem. Denn nach einer Betreibung wird der Lohn bis aufs Existenzminimum gepfändet. Das verfügbare Geld wird also zur Begleichung von anderen Schulden verwendet. Irgendwann kommt die Steuerrechnung. Nun bleibt nichts anderes übrig, als sie aus dem Existenzminimum zu bezahlen. Weil das meistens nicht geht, verschulden sich Betroffene weiter. So kommen viele nicht mehr aus den Schulden heraus. Auf der anderen Seite gibt es für die Gläubiger*innen keinerlei Anreize, auf ihr Geld zu verzichten.

Warum sollten sie das tun?
Dafür gibt es aus volkswirtschaftlicher Sicht gute Gründe. Wenn Menschen keine Schulden haben, können sie mehr konsumieren. Und den Konsum braucht es, damit die Wirtschaft funktioniert. Zudem haben wir als Gesamtgesellschaft ein Problem, wenn es vor allem die Schulden beim Staat sind – also die Steuern –, die nicht bezahlt werden.

Wie könnte man das ändern?
Mit einem Restschuldbefreiungsverfahren. Es geht darum, dass Betroffene innerhalb einer gewissen Zeit zurückzahlen, was sie können – und dafür am Ende dieser beispielsweise drei Jahre schuldenfrei sind. Heute ist eine solche Schuldensanierung nur dann möglich, wenn überhaupt Geld vorhanden ist. Die Gläubiger*innen müssen mit dem Vorschlag einverstanden sein. Mit der nun geplanten Gesetzesrevision können sie dazu gezwungen werden, was eine Sanierung auch für Menschen mit wenig Geld möglich macht.

Sie bezeichnen überschuldete Menschen als Opfer des Systems. Inkassofirmen sehen das anders: Die Schuldner*innen sind es, die ihre Rechnungen nicht bezahlen und damit das ganze Schlamassel auslösen.
Von wegen selber schuld: Eigenverantwortung beim Thema Überschuldung ist ein Mythos. Mir ist kein Fall bekannt, in dem jemand seine Rechnungen absichtlich nicht bezahlt – ausser natürlich, die Forderung wird nicht akzeptiert. Die Leute zahlen in der Regel deshalb nicht, weil sie kein Geld haben oder weil sie sich in einer prekären Lebenssituation befinden, wie etwa bei einer Trennung, Krankheit oder einem Jobverlust. Bei den Steuern ist manchmal auch die Bürokratie ein Thema.

Aber wenn sich jemand per Leasing ein teures Auto kauft, das er sich eigentlich nicht leisten kann …
Da fängt es eben schon an: Solche Kredite dürften häufig gar nicht vergeben werden, zumindest nicht in diesem Ausmass. Oft macht die Bank Fehler in der Aufstellung des Kreditbudgets. Das heisst, sie kalkuliert zu optimistisch – und die Kreditnehmer*innen verschulden sich. Besonders heikel ist das bei den Barkrediten. Die werden aufgenommen, um Schulden zu begleichen.

Kann man die Banken nicht zur Rechenschaft ziehen?
Doch. Nur weiss das kaum jemand. Ein realistisches Budget aufzustellen, ist nämlich die Pflicht der Banken, nicht der Kreditnehmer*innen. Das heisst: Machen die Banken dabei schwerwiegende Fehler, müssen die Kredite vom Gesetz her gar nicht zurückbezahlt werden. Das ist die Theorie. In der Praxis ist es schwierig, in diesem sehr spezifischen Rechtsgebiet eine passende Rechtsvertretung zu finden. Das Gebiet ist für Anwält*innen nicht sehr lukrativ. Und wenn sie doch einen finden, haben Schuldner*innen kein Geld, um sie oder ihn zu bezahlen.

Haben Sie eine Lösung?
Es braucht eine staatliche Aufsicht über die Kreditvergabe. Dasselbe gilt für die Inkassobranche. Dort ist es dasselbe Schema: Alle wissen, dass Inkassokosten häufig nicht geschuldet sind. Trotzdem verrechnen die Inkassofirmen diese Kosten immer wieder. Und zwar schlicht darum, weil nicht alle das Wissen und die Mittel haben, sich zu wehren. Lieber bezahlen sie, als im Betreibungsregister eingetragen zu werden.

Der Bundesrat ist gegen eine Regulierung. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass es ja für strittige Fälle den Rechtsweg gibt.
Für mich unverständlich. Wenn eine Praxis immer wieder angewandt wird, obwohl sie von Gerichten als gesetzeswidrig bezeichnet wird, dann muss sie unterbunden werden. So wie es jetzt ist, müssen sich Betroffene im Einzelfall wehren, um zu ihrem Recht zu kommen. Damit überträgt der Staat die Verantwortung für die Umsetzung des Rechts auf überschuldete Private, die eh schon überfordert sind. Und die kein Geld haben, um eine anwaltliche Vertretung zu bezahlen.

Reichen also einige neue Gesetzesartikel, um das Problem der Überschuldung zu lösen?
Ich bin der Meinung, dass es auch ein nationales Kompetenzzentrum braucht. Damit könnte das Problem der Überschuldung genauer umrissen sowie Lösungsstrategien ausgearbeitet werden. Das Zentrum sollte wissenschafts- und praxisnah sein. Zudem braucht es eine gesetzliche Grundlage für eine kostenlose Rechtsberatung für Überschuldete. In der Literatur und auch beim Bund ist man sich einig, dass ein Recht auf Rechtsschutz zu den Grundrechten von Armutsbetroffenen gehört.

Rausan Noori

Rausan Noori, 38, ist Rechtsanwältin in Zürich, spezialisiert unter anderem auf Konsumkredite, Inkasso, Betreibungen und Sanierungen. Sie ist Autorin diverser Fachartikel rund ums Thema Überschuldung und Co-Autorin eines neuen Handbuches über das Konsumkreditgesetz (Pdf kostenlos auf: www.konsumkreditgesetz.ch).

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