Strassenmagazin
Bedeutsame Resilienz
Unsere Redaktion hat auch im vergangenen Jahr wieder 25 informative, bewegende und visuell starke Surprise-Ausgaben produziert; eine beeindruckende Leistung in einer Zeit, in der kritischer Journalismus gezielt angegriffen wird. Wir haben mit sorgfältigen Recherchen und Vernetzungsarbeit mit anderen Journalist*innen und Strassenzeitungen dagegengehalten – und dafür viel Lob bekommen.


Das weltweite Netzwerk der Strassenzeitungen «INSP» setzt sich für unabhängigen Journalismus ein
Qualitativ hochwertiger Journalismus
2024 hat sich die Situation für Journalist*innen nicht nur international deutlich verschlechtert. Auch in der Schweiz wurden sowohl bei den öffentlich-rechtlichen als auch bei den privaten Medien massiv Stellen abgebaut und dadurch die Rolle des seriösen Journalismus als gesellschaftliches Kritik- und Kontrollorgan weiter ausgehöhlt.
Trotzdem und gerade deswegen hat sich unsere Redaktion im vergangenen Jahr entschlossen dafür eingesetzt, soziale Missstände in der Schweiz und weltweit aufzuzeigen: durch vermehrte eigene Recherchen, die direkte Zusammenarbeit mit externen Journalist*innen sowie deren finanzielle Unterstützung für aufwändige und entsprechend tiefgehende Beiträge via Surprise Recherchefonds. Das wurde uns in vielen positiven Rückmeldungen gedankt: Die Leser*innen liessen uns wissen, dass sie das «Surprise» schätzen und das Strassenmagazin als sinnvolle Ergänzung oder sogar angenehme Alternative zu den sonst üblichen Medien sehen; unsere Beiträge nahmen sie als gut recherchiert, relevant und oft einzigartig wahr.
Thematisch legten wir einen besonderen Fokus auf die Themen «Armut» und «Migration» in der Schweiz. In den Beiträgen zur Armut ging es schwerpunktmässig um das Existenzminimum, Bildung, Wohnen und soziale Teilhabe. Zur Migration kamen neben eigenen Recherchen in Kooperation mit den renommierten Recherchekollektiven CORRECTIV und WAV substanzielle Beiträge über die Arbeit im Asylwesen, Rimessen oder Grenzkontrollen zustande. Und mit einem Themenheft im Herbst 2024 vertieften wir das Thema «Sucht» aus verschiedenen Perspektiven und nutzten dafür den ganzen Platz, den uns das Magazin bietet – alles Themen, die in einem Wohlstandsland wie der Schweiz nach wie vor unterbeleuchtet sind.

Zwei «European Publishing Awards» haben wir mit unseren Heften im Jahr 2024 gewonnen: Für die Fotostrecke über Spitzbergen im #566 (Bild, © Mario Heller) und die Info-Grafik zum Untergang des Schiffes «Adriana» im #576
Von Menschen
Neben dem grossen inhaltlichen Zuspruch freut es uns, dass wir mit unseren Beiträgen häufig den Wunsch geweckt haben, in der Welt aktiv zu werden. Wir erhielten von vielen Leser*innen Anfragen, wie sie konkret helfen können. Das sehen wir als grossen und einzigartigen Mehrwert von Strassenzeitungen, weil hier menschliche Werte und konkrete Handlungsmöglichkeiten direkter mit den erzählten Geschichten verzahnt sind; und im vergangenen Jahr kam dies besonders zum Tragen, da durch die vermehrte eigene Autor*innentätigkeit der Redaktion viel Expertise und eine enge Beziehung zu den Themen «auf der Strasse» vorhanden war. Zudem waren die Nutzer*innen unserer Angebote immer wieder sehr präsent: etwa in zahlreichen Porträts und ganz besonders in den Feiertagsausgaben im Dezember. Sie enthielten wunderbar illustrierte, berührende Beiträge aus der Textwerkstatt und einen Museumskatalog der «Kleinen Schätze» zu Gegenständen, die den Menschen bei Surprise besonders wichtig sind.

«Orte der Begegnung» brachte 2024 etwas Leichtigkeit ins Heft, etwa mit Beobachtungen im Migros-Restaurant (Heft 576)
Ausserdem lancierten wir 2024 die Serie «Orte der Begegnung», auch als Reaktion auf die Bitte um weniger schwergewichtige und traurige Beiträge: Wir erhielten viele Zuschriften von Leser*innen, dass sie von der Weltlage und dem immer grösseren Bewusstsein für die Vielzahl an politischen Baustellen und Konflikten stark mitgenommen seien. Im neuen Format stellten wir darum Orte vor, an denen sich ganz selbstverständlich und mit ein wenig Leichtigkeit Menschen treffen, die sich ohne diese Orte weniger begegnen würden; etwa das Migros-Restaurant, das Museum – oder der Friedhof.
Strassenzeitungen ganz gross
Das aussercurriculare Highlight des Jahres war zweifellos die Ausstellung «Wie Strassenzeitungen Leben verändern – How Street Papers Change Lives» im Kornhausforum Bern, die unsere Redaktion massgeblich mitverantwortet und -gestaltet hat. Darin ging es um die Idee der Strassenzeitung als Mittel zur Armutsbekämpfung, das Internationale Netzwerk der Strassenzeitungen (INSP), die Geschichte von Surprise sowie um weitere Angebote, die mit den Strassenmagazinen verbunden sind, wie Soziale Stadtrundgänge, Chor, Fussball, Blumenladen, Kreativwerkstatt, Umzugsunternehmen etc. In erster Linie aber ging es um die Verkäufer*innen, die auch bei der feierlichen Eröffnung durch den Bundesrat und ehemaligen Surprise-Vorstandsvorsitzenden Beat Jans zahlreich zugegen und beteiligt waren. Die Ausstellung stiess auf ein so grosses Interesse, dass sie um mehrere Monate verlängert wurde.
Besonders spannend waren auch die Tagungen des INSP und der Deutschsprachigen Strassenzeitungen. Diese Treffen sind für uns wichtig, um uns im DACH-Raum und weltweit zu vernetzten und über gemeinsame Herausforderungen und Lösungsansätze zu diskutierten – zudem können wir mit unserem Know-how als eines der etablierteren Projekte immer wieder Strassenzeitungen mit begrenzteren Ressourcen unterstützen. Neben praktischen Themen wie der Digitalisierung und dem Umgang mit ehrenamtlichen (also unregistrierten bzw. irregulären) Verkäufer*innen ging es auch um die Selbstorganisation: Die Dachorganisation INSP erlebte im vergangenen Jahr einen Finanzierungszusammenbruch, was einen Neustart notwendig machte, den wir durch unser intensives Engagement massgeblich mitgestaltet haben. Ergänzend dazu debattierten wir an der DACH-Tagung über eine stärkere Integration der deutschsprachigen Strassenmagazine.

Die Ausstellung im Kornhausforum widmete sich Strassenzeitungen im Allgemeinen und Surprise im Speziellen
Nötige Anpassungen
Damit sich die Arbeitsbelastung normalisieren und die Redaktion die Qualität des Magazins beibehalten und ausbauen kann, hat sie zum Jahreswechsel die personellen Ressourcen leicht erhöht. Eine zusätzliche Redaktionsstelle mit einem Fokus auf der Heftproduktion wird im Jahr 2025 Entlastung bringen und neue kreative Möglichkeiten eröffnen, wie das Strassenmagazin «Surprise» ein unverzichtbarer Bestandteil der Schweizer Medienlandschaft und der weltweiten Bewegung gegen Armut bleibt. Das ist umso wichtiger angesichts der Auflagenzahlen, die erstmals seit Langem – und später als jene der meisten anderen Strassenmagazine weltweit – in den letzten Jahren rückläufig waren (mehr dazu im Bereichsrückblick Koordination Strassenverkauf und Soziale Arbeit).
Inhaltlich wird weiterhin Migration als zentrale Ursache wie auch als Folge von Armut eine wichtige Rolle spielen. Zudem erscheint eine neue Serie zum Thema «Hinter Mauern», wir widmen uns der Erinnerungskultur, und mit der ETH ist eine Kooperation zum Denkmalschutzjahr geplant. Surprise zu lesen lohnt sich also auch 2025!
Zahlen und Fakten
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1’172 Gendersternchen haben wir gedruckt – knapp 47 pro Ausgabe.
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Mit CHF 12’000.- aus unserem Recherchefonds konnten wir unabhängigen Journalismus fördern.
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Einen Bundesrat liessen wir von der Tochter einer Verkäuferin interviewen.