Weiden und grasen

09.08.2024TEXT: LEA STUBER, ILLUSTRATIONEN: PIRMIN BEELER

Serie: Orte der Begegnung

In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder dorthin, wo in unserer funktionalen
Welt ein leiser, selbstverständlicher, infor- meller Austausch stattfindet.

FRIEDHOF Der Ort: der Bremgartenfriedhof Bern um die Mittagszeit an einem warmen Sommertag. Er ist mit circa 16 Hektaren der zweitgrösste von drei Friedhöfen in der Stadt. Warum, sinniere ich geerdet und beflügelt zugleich auf einer der Bänke sitzend, bin ich in all den Jahren noch nie hierhergekommen? Die Hauptfiguren: Personal aus dem benachbarten Inselspital, eine Kita-Gruppe, eine Herde Engadinerschafe. Die Handlung: steht so gut wie still.

Die Menschen sind hier einzeln unterwegs. Mal mit Hund an der Leine oder mit Kinderwagen, auch joggend oder gemächlich auf dem Velo. Erlaubt ist Fahrrad fahren zwar nicht, doch stören tut es im Moment auch niemanden wirklich. Jemand im weissen Kittel. Kurz darauf zwei weitere im weissen Pflegepersonal-Shirt. Die Menschen schlendern und wandeln, niemand hastet, niemand eilt. Kaum auf einer der Alleen aufgetaucht, verschwinden sie wieder hinter der nächsten Hecke, der nächsten Föhre. Oder sonnen sich irgendwo in der Ferne auf einem Badetuch im Gras.

Eine junge Frau geht vorüber. Was sie wohl hierher führt? Besucht sie einen Verstorbenen, den sie liebt und der hier ruht? Der Wind raschelt durch die Linden und Sträucher. Es fehlte nicht viel, und die durcheinander zwitschernden Vögel (über fünfzig Arten sollen hier leben) würden das gelegentliche Tuten einer Ambulanz und das Donnern der Lastwagen auf der Murtenstrasse übertönen.

Hinter einem Zaun weiden und grasen die Schafe. Vor dem Zaun: staunende Kita-Kinder. «Eins, zwei, …», zählt eine vorbeigehende Frau, «acht!» Die Kinder begeistern sie mehr als die Schafe. Ein paar Minischritte weiter wird die Schar schon von der nächsten Spaziergängerin gegrüsst. «Grüessech mitenang!» – «Haaallo!», rufen die Kinder mit fröhlichen Stimmen zurück.

Gerade steht keine Gruppe von Trauernden um ein Grab, verabschiedet einen Verstorbenen und würdigt sein Leben. Die Gräber stehen für sich alleine. Sie tragen Namen von Menschen, die vor wenigen Wochen oder Monaten gestorben sind, andere vor Jahren und Jahrzehnten. Am Wegrand ein Schild. «Ho detto agli altri morti: avviciniamoci, non ha senso stare pure qui ognuno per conto suo.» Übersetzt schreibt der italienische Poet Franco Arminio hier: «Ich sagte den anderen Toten: Lasst uns näher rücken, es macht keinen Sinn, dass sogar hier jede*r für sich bleibt.» Anscheinend hat er das schöne Ritual, auf den Friedhof in seinem Dorf zu gehen und dort eine oder einen Toten für einen Spaziergang abzuholen. Sie unterhalten sich dann über dieses und jenes, bevor Arminio ihn zurück auf den Friedhof begleitet und wieder seiner Totenruhe überlässt.

Auf dem Bremgartenfriedhof gibt es Orte, um die so viele Sträucher, Hecken und Bäume wachsen, dass das Einzige, das von den Menschen hin und wieder leise wahrnehmbar ist, ihre Stimmen sind. Es duftet üppig nach Garten, nach so vielen verschiedenen Blumen und Pflanzen, die es zu kennen gäbe. Und nach frisch gemähtem Gras. Nur die Gärtner*innen mit ihren Strohhüten, verstreut über die vielen Ecken des Friedhofs, sind hier wirklich beschäftigt.

Sie transportieren das gemähte Gras auf Anhängern ab und wässern den Rasen. Ein Gärtner stoppt den Rasentrimmer, wenn jemand vorübergeht, um innezuhalten und zu grüssen. Irgendwann verstummen sie dann ganz, die Rasenmäher. Mittagspause.

Ein Mann lässt Wasser in eine Giesskanne laufen und giesst bei ein paar Gräbern die Blumen. Alle sind mit sich alleine da und doch irgendwie zusammen. Wir erholen uns zusammen von der Hitze der Stadt, hängen zusammen den Gedanken nach und lassen zusammen die Seele baumeln. Wir blicken ziellos in die Ferne und dann auf die Biene direkt vor uns, die um den Lavendel fliegt, und zu der Amsel, die über die Wiese hüpft und einen Wurm im Schnabel trägt. Oder doch nur ein verdorrtes Blatt? Die wenigen Menschen, die nicht mit sich alleine hier sind, sind zu zweit oder zu dritt da. Sie sitzen auf Stühlen auf der Wiese, vertieft in ein Gespräch. Oder sie essen ihr Mittagessen aus der Tupperware. Wir alle teilen uns diesen verschlungenen und verwunschenen Garten mit den pompösen Alleen und schmalen Kieswegen, wo sich die Orientierung leicht verlieren lässt. Aber vielleicht auch so gut wie kaum sonstwo auch wieder finden lässt.

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