Zwischen Minze und Thymian

Serie: Orte der Begegnung
«Orte der Begegnung» – eine Liebeserklärung an Räume, Plätze und Ecken in unserer Gesellschaft, wo Menschen sich treffen, ohne dass sie sich extra dafür verabreden. Wo sie einander näherkommen oder auf Distanz bleiben, wo sie sich austauschen oder für sich sind, wo sie verweilen oder nur für kurze Zeit bleiben.
MIGROS-RESTAURANT Der Ort: das Migros-Restaurant in der Berner Länggasse, irgendein Nachmittag; seit zwanzig Jahren komme ich regelmässig hierher, um zu arbeiten, dazu trinke ich eine Sinalco. Die Hauptperson: Herr Siegenthaler, etwa 80, hager, Typ Lehrer, der immer da ist, wenn auch ich hier bin, weswegen wir uns bereits 2400-mal gesehen, aber nur dreimal miteinander geredet haben. Die Handlung: findet mehrheitlich im Kopf statt.
Vermutlich hat dieser Mann die nicht unwesentliche Gabe, andere nicht zu belästigen. Es gibt Leute, die suchen mit aufgesetzten Blicken und irrwitzigen Bewegungen unsere Aufmerksamkeit – wie aufdringlich das ist. Herr Siegenthaler ist nicht von dieser Sorte. Er ist, schon aus Höflichkeit, zurückhaltend. Vielleicht war er früher, in seinen jungen Jahren, schneidig und resolut, aufbrausend gar. Dass die Frauen damals seine hellblauen Augen anbeteten, ist jedenfalls nicht ausgeschlossen. Heute sitzt er allein an diesem Tisch mit dem blassbraunen Fournier, nahe am Fenster. Er hat einen Kaffee vor sich, Doppelcrème, ein Stück Landfrauenkuchen aus Himbeer und Haselnuss, den Kuchenrand trennt er mit der Gabel ab, das tut Herr Siegenthaler immer so. Auf der Strassenseite gegenüber, man sieht es durch die grossen Glasscheiben, haben Menschen ihre Wäsche vors Fenster gestellt, ein leerer Kleiderbügel dreht sich am Seil, es windet. Später werden die Vögel über der Migros kreisen wie immer am späten Nachmittag, vielleicht kommen sie aus dem Bremgartenwald oder von der Aare herauf.
Herr Siegenthaler, glattrasiert, gewelltes Haar, richtet die Wochenendausgabe der Berner Zeitung BZ vor sich aus, er reibt sich die Hände, vielleicht schmerzen seine Gelenke. Die meisten lesen als Erstes die letzte Seite einer Zeitung, so etwas würde Herrn Siegenthaler im Leben nicht einfallen, er beginnt ganz vorne, mit der ersten, grossen Schlagzeile.
An der Wand hinter seinem Rücken steht, wie wohl in jedem Migros-Restaurant von Brig bis Bottighofen, in grellgrüner Farbe: Dill, Gurkenkraut, Minze, Zitronenmelisse, Rosmarin, Thymian. Und es steht auch geschrieben: «Schön sind Sie unser Gast.»
Jetzt, es ist Samstag später Nachmittag, sind kaum noch Leute hier, zwei Tische neben Siegenthaler sitzt ein älteres Ehepaar, sie hat einen Rollator, er isst Käsekuchen. Später kommen noch zwei Frauen dazu, Mutter und Tochter, auch ihnen winkt Herr Siegenthaler freundlich zu, und wäre er ihnen draussen auf der Strasse begegnet, hätte er sich wohl verneigt, aber womöglich bilde ich mir das bloss ein.
Was weiss man schon von einem Menschen, den man über so viele Jahre hinweg immer wieder gesehen, mit dem man aber kaum gesprochen hat? Immer schon trägt Herr Siegenthaler diesen dunkelblauen Regenmantel, doch erst heute fällt mir der leicht speckige Kragen auf.
Und eines Tages wird er einfach nicht mehr kommen, und die am Nebentisch werden denken, so, jetzt ist er tot.
Aber heute reden sie ganz aufgeregt über den Eurovision Song Contest und was dieses Spektakel noch mit Schlager zu tun hat, mit Peter Alexander, Wencke Myhre, Nicole – und Katja Epstein, wirft Herr Siegenthaler vom anderen Tisch her ein, worauf die eine Frau sofort «Dann heirat’ doch dein Büro» anstimmt und dazu schunkelt. Herr Siegenthaler schmunzelt und schaut zu mir herüber und immer, wenn er die Augen zukneift, zieht sich seine spitze Nase zurück, das goldfarbige Brillengestell hüpft nach oben, er öffnet den Mund, dem die hinteren Zähne fehlen. Ob seine Frau noch lebt, frage ich mich. Doch dann erinnere ich mich, dass er im Gespräch mit jemandem einmal erwähnte, er sei Zeit seines Lebens Junggeselle gewesen und gut ist.
Ich wüsste nur zu gern, wie es ist in einem Migros-Restaurant, mitten in einer stockdunklen Nacht. Ob irgendwo Gläser klirren? Wohl kaum. Orte wie dieser sind dazu da, dass wir die Einsamkeit vergessen, die in uns heranwächst wie ein kleines, hungriges Tier. Und ist es einmal ausgewachsen, verschlingt es uns mit Haut und Haar.
Herr Siegenthaler hat übrigens dieses sanfte, vielsagende Lächeln, an dem auch Sie ihn erkennen würden.
In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder dorthin, wo in unserer funktionalen Welt ein leiser, informeller Austausch stattfindet.
Hintergründe im Podcast: Radiojournalist Simon Berginz spricht mit Redaktor Klaus Petrus über die neue Serie. https://surprisetalk.podigee.io/89-orte-der-begegnung