Glace kleckern für alle
Serie: Orte der Begegnung
«Orte der Begegnung» – eine Liebeserklärung an Räume, Plätze und Ecken in unserer Gesellschaft, wo Menschen sich treffen, ohne dass sie sich extra dafür verabreden. Wo sie einander näherkommen oder auf Distanz bleiben, wo sie sich austauschen oder für sich sind, wo sie verweilen oder nur für kurze Zeit bleiben.
FREIBAD LETZIGRABEN Der Ort: das Zürcher Freibad Letzigraben an einem Frühsommernachmittag, Aussentemperatur ca. 24 Grad Celsius. In Freibädern habe ich ganze Semesterarbeiten für die Uni geschrieben. Man ist hier ungestört und doch nicht einsam. Die Personen: Babys, Kleinkinder, Teenager, Mütter, Väter, Senior*innen. Die Handlung: das unspektakuläre Dasein im Zwischenbereich von Alltag und Freizeit.
Max Frisch war als Schriftsteller nicht dringend Spezialist für unbelastete Begegnungen, wie wir sie in dieser Serie beschreiben wollen (wir erinnern uns, nur als ein Beispiel: seine Romanfigur Faber verliebt sich, ohne es zu wissen, in die eigene Tochter). Eher eignet sich sein Werk vielleicht, um in die Seele des alternden mittelständischen weissen Mannes hinein- oder hinabzusteigen. Aber: Frisch war auch Architekt und hat als solcher das Freibad Letzigraben gebaut (auch Max-Frisch-Bad genannt). Und: Es gibt ihn auch genau hier, den alternden Mann.
Er steht in engen Badehosen und gegerbter, faltiger Haut am Beckenrand und macht Dehnübungen, er schüttelt sich das Wasser aus den Ohren und lässt sich stehend in der Sonne trocknen. Drüben beim Babyteich stolpern derweil bewindelte Kleinkinder durch das Wasser, anderen haben die Erziehungsberechtigten UV-schützende Ganzkörperanzüge übergestülpt, Mütze mit Nackenschutz.
Strandkörbe, die aussehen wie Bienenkörbe. Rote Sonnenschirme, soweit das Auge reicht. Weissblaue Schaumgummiflossen im Wasser. Alles gleich, weil städtisch mietbar. Kaum jemand hat etwas anderes oder Besseres mitgebracht. Auch die Hitze trifft alle gleich. Und alle kriegen den gleichen Sonnenbrand, lesen sich den gleichen Fusspilz auf. Die Badi ist ein Gleichmacher, und der Mensch ist hier – fast – nackt.
Babyeltern unterhalten sich mit anderen Babyeltern mit Schwangerschaftsstreifen und Ansätzen zum Bierbäuchlein, weil auch sie Babyeltern sind. Die Kleinkinder stellen sich vor andere Menschen hin, weil auch sie Menschen sind, und beobachten sie. Distanzlos, genau, interessiert. Die jungen Väter spritzen sich derweil gegenseitig mit den Sandeimerchen und Plastikschaufeln ihrer Kleinkinder an.
Warteschlangen vor dem Eingang, an der Restaurant-Theke, an der Rutschbahn. Haut an Haut, ein sehr körperliches Nebeneinander. Man cremt sich gegenseitig ein, schubst und zieht sich ins Wasser, man ist verbunden in diesem Element und in den grundlegendsten Bedürfnissen und Zuständen. Schwitzen, Frieren, Trinken, Planschen. Von der Sonne in den Schatten, vom Schatten in die Sonne, Glace, Pommes, Cola, Bier. Eine Gruppe von Jugendlichen teilt sich ein Strandtuch, ein Mädchen hockt platzsparend auf einem der Jungen und beugt sich herunter, um ihn zu küssen. Auf einem der städtischen Badeflosse treiben zwei Teenie-Mädchen durch das Bassin und führen ein angeregtes Gespräch.
Von den Schwimmwindeln über Akne und Muskeln hin zu faltigen Beinen und hängenden Pobacken, der Lauf des Lebens in Schwimmbahnen und Düsenkanälen, mit dem leichten Duft des Chlors, das gegen den Zerfall ankämpft.
Das alles sind Beobachtungen aus der Distanz. Mit vom Chlor gereizten Augen und mit Wasser in den Ohren registriert, vielleicht mit eigenen Gedanken und Projektionen vermischt. Denn Freibäder haben auch mit Erinnerung zu tun. Nicht an konkrete Geschehnisse, sondern an Zustände, Gerüche und Geschmäcker.
Das Freibad lässt einen irgendwie nicht los. Als Baby wird man mitgenommen, weil man hier nicht stört, als Teenie sucht man flirrende Hitze, kühlende Nässe oder auch einfach ein Gefühl der Zugehörigkeit. Als Eltern sucht man selber den Ort, an dem die Regeln ausserhalb des Wassers nicht so streng sind wie anderswo. Und im Alter, stelle ich mir vor, werde ich wieder in die Badi gehen, weil ich hier die Hitze unter den Füssen und die Strömung der Düsen noch immer spüren werde.