So klingt das Glück (601)

30.05.2025Text: Sara Winter SayilirILLUSTRATION: PIRMIN BEELER

Meine Familie ist eine Musiker*innenfamilie. Trotz Pensionierung probt mein Vater, Gitarrist und Chorleiter, noch mit einem Chor in der Kleinstadt bei Hamburg, aus der ich komme. Es gehört zu meinen frühen Kindheitserinnerungen, dass ich ans Bein meiner Mutter gelehnt zwischen den Sopranistinnen stehe und mit ihnen für Frieden singe. Oder gegen Atomkraft bei den Protesten vor dem inzwischen vom Netz genommenen AKW Stade. Es war ein Gewerkschaftschor.

Singen macht nachgewiesenermassen glücklich, das merke ich auch jetzt wieder. Auf Besuch im Norden Deutschlands bei meinen Eltern bin ich mal wieder bei einer Chorprobe. Zwischen meinem Sohn und meiner Mutter stehe ich inmitten der eher wortkargen und distanzierten Norddeutschen, gemeinsam schmettern wir «Tourdion», ein mittelalterlich anmutendes französisches Lied aus dem frühen 16. Jahrhundert. Je länger wir singen, desto mehr von uns lächeln. Es passiert von ganz allein, die Melodie, der Takt und die Harmonien lassen uns keine Wahl. Da ist’s egal, dass es im Stück einfach nur ums Weintrinken geht. Die Stimmung im Raum hebt sich, und schon kommt man auch mal miteinander ins Gespräch in den Pausen. Musik verbindet.

Auch der Verein Surprise hat einen Chor. Man braucht keine musikalischen Vorkenntnisse, um hier mitzusingen. Einmal die Woche wird geprobt, und mehr als einmal im Monat gibt es auch einen Auftritt. Dabei geht es beim Surprise Strassenchor nicht in erster Linie um die Performance, sondern um den Zauber des gemeinsamen Erlebens: nämlich die fast magische Fähigkeit von Musik, die Menschen von ihren Sorgen abzulenken – nicht nur jene, deren Leben schwierig und deren Geld knapp ist. Das kann man auch von aussen sehen: Der Chor verbreitet Lebensfreude, das lässt kein Publikum kalt. Manch eine*r singt mit, andere lachen und klatschen.

Musik kann therapeutisch wirken. Sie kann Emotionen vermitteln, aber auch kanalisieren. Auch für Nicht-Musiker*innen bieten vertraute Klänge ein Zuhause, sie lassen ganze Subkulturen entstehen, schweissen so Gruppen zusammen oder dienen als Ventil. Mancherorts geht man abends in die Beiz, wo sich spontan Musiker*innen zusammenfinden, und schon wird gejammt – irische Pubs sind dafür berühmt. Andernorts erlebt man die besten Konzerte auf der Strasse oder am Strand. Kommt man aus unterschiedlichen Kulturen, kann man über das gemeinsame Musizieren Verbindendes entdecken, einander näherkommen. Musik ist auch eine Sprache.

Ein Freund sammelt alte fränkische Lieder. Er ist ein alter Punk, die ehemals bunt gefärbt abstehenden Haare sind heute weisse Stoppeln, doch er ist weiterhin politisch besorgt um den Zustand unserer Welt. Sein Dissidententum hält ihn nicht davon ab, mindestens drei Sorten Volkstänze zu tanzen (auch wenn er sie vielleicht lieber nicht mit diesem Wort bezeichnet). Er möchte aufrechterhalten, was früher mal nicht politisch exklusiv von rechts besetzt war, sondern wie Kitt für die Gemeinschaft funktionierte. Und es geht ihm um Begegnung. Mit seinem Akkordeon besucht er Altersheime und die Psychiatrie, um mit seinen Melodien Menschen zu berühren, die teilweise für Konversationen nicht mehr erreichbar sind. Seine Walzer sind so schön, dass man weinen muss.

Projekte wie das West-Eastern Divan Orchestra haben über Jahrzehnte daran gearbeitet, mittels Musik auf das Verbindende zwischen Israeli und Palästinenser*innen zu fokussieren. Musik kann auch Unterstützung und Resilienz verkörpern, kann Mut machen, Protest ausdrücken und den Schrecken der Gegenwart abmildern. Doch gegen das Töten ist Musik machtlos. Was tun, wenn sich ein Ensemble plötzlich familiär und biografisch auf verschiedenen Seiten einer Frontlinie wiederfindet – wie es einigen Gruppen auch nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine geschehen ist? Vielleicht kann Musik in Konflikten Verhärtungen begegnen und Hass abbauen. Doch wie geht man in Zeiten des Krieges mit dem Kulturgut des Aggressors um?

Musik ist kein Allheilmittel. Sie wird auch zu Propagandazwecken benutzt und dem Profit zuliebe ihrer Kraft beraubt. Und doch kann sie den dringend benötigten Raum zu etwas Schönem öffnen.

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