Hinter dem Absperrband (599)

02.05.2025Diana FreiILLUSTRATION: PIRMIN BEELER

Ich steige mit fünf Duschvorhangstangen unter dem Arm ins Tram, dazu ein Plastikbaldachin für ein Ikea-Kinderbett und eine Chicco-Kinderwippe, deren Flecken auf dem Bezug ich nicht mehr interpretieren kann. Ich habe die Wippe vor fünfzehn Jahren zuletzt benutzt. Karotten- oder Broccolibrei. Es ist Dienstag, 18. März, zwischen 15 und 19 Uhr, das Cargo-Tram steht jetzt gemäss der App «Entsorgung + Recycling» der Stadt Zürich beim Letzigrund.

Die Entsorgung ist ein Akt der Befreiung. Aber in diesem Fall auch ein Outing: Seht her, ich gehöre zu denen, die ihren Mist zu Fuss entsorgen. Es gäbe die Recyclinghöfe, bei denen man elegant mit dem Auto vorfahren und gegen eine Recyclinggebühr alles aufs Mal loswerden könnte. Ich gebe zu, oft fühle ich mich nicht ganz erwachsen, weil ich nicht Auto fahren kann. Ein Glück, dass das Cargo-Tram eh ausschliesslich autofrei funktioniert.

Auf der Tramfahrt zum Letzigrund weicht mir schon zu Beginn eine Frau erschreckt aus. Es gäbe genügend Platz zum Ausweichen, der strafende Blick wäre nicht nötig. Aber ich ahne: Es ist ein soziales Urteil, das sie da innerlich fällt. Menschen, die Dinge mit sich herumschleppen, wecken Misstrauen, Gefühle der Abgrenzung. Wer hat denn schon seinen halben Hausrat dabei? Hässliche, kaputte Sachen.

Ich meine, es gäbe Orte auf dieser Welt, in denen es solche Szenen im öffentlichen Verkehr öfter zu sehen gibt, jedenfalls bin ich andernorts schon eingequetscht zwischen Taschen, Hühnern und Menschen Bus gefahren, ohne dass jemand strafend geguckt hätte. Im Schweizer Tram trägt man seine persönliche Lebenssituation nicht mit sich herum. Vier Stationen, das ist machbar. Mit jeder einzelnen, die mich dem Letzigrund näherbringt, fühle ich mich innerlich bereits ein bisschen normaler; noch eine Minute, dann werde ich zu einer Gruppe überzeugter ÖV-Benutzer*innen gehören, die alle ohne Auto entsorgen. Mir fällt die Wippe runter, ich schiebe sie mit dem Fuss von der Eingangstür weg. Zypressenstrasse, kurz vor dem Letzigrund. Leichte Sorge, dass ich mich im Datum getäuscht habe. Klappt alles, werde ich schon bald wieder zu einem Teil der unauffälligen Mehrheit. Nun darf ich aussteigen.

Ein Mann mit einer riesigen Holzplatte in den Händen kommt mir entgegen. Seine Platte misst etwa 2 × 2 Meter, er kämpft gegen ihr Gewicht und gegen die Physik, Kippwinkel, Erdanziehung, Dichte und Widerstand. Er sieht seltsam aus mit seiner Holzplatte, bewegt sich seltsam, wird seltsam angeguckt. Und er sagt zu mir: «Schön zu sehen, dass es noch andere gibt ausser mir.» Ich sage: «Genau dasselbe denke ich auch jedes Mal.»

Aber ich will ERZ nichts Falsches unterstellen und frage später bei der Medienstelle nach. Ich lag falsch. «Am Tauschplatz unserer Entsorgungstrams wechselten im Jahr 2024 pro Durchführung knapp 80 Objekte den*die Besitzer*in, im Jahr 2025 (Januar bis März) waren es durchschnittlich 115 Gegenstände. Gegenstände, die am Schluss noch übrig sind, nimmt Entsorgung + Recycling Zürich zum nächsten Standort mit. Erst wenn die Objekte mehrfach keine*n Abnehmer*in gefunden haben, entsorgt ERZ sie fachgerecht.» Und weiter: «Der Tauschplatz dient dazu, Gegenstände vor der Entsorgung zu retten und die Bevölkerung dafür zu sensibilisieren, dass nicht alles, was selbst nicht mehr gebraucht wird, Abfall ist.» Den letzten Halbsatz muss ich mir merken.

Ich folge nun dem Mann mit der grossen Holzplatte, vorne stehen zwei Mitarbeiter der Entsorgung, sie nehmen beflissen und stillschweigend das Material entgegen. Auch das ist eine schöne Begegnung, die Rollen sind klar, die Situation hat eine wohltuende Klarheit und der Akt der stillschweigenden Annahme vermittelt das Gefühl: Ich bin hier richtig. Angekommen bei den anderen Menschen, die kurzfristig aus dem Rahmen gefallen sind und auf dem Weg hierher sicher auch ein bisschen schräg angeguckt wurden.

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