«Ich konnte reden, das war mein Glück»
Die 80er- und 90er-Jahre in Zürich waren ihre «goldene Zeit», sagt die ehemalige Sexarbeiterin Dodo. Dann rutschte sie in die Armut. Eine Begegnung mit der neuen Surprise Stadtführerin.

Foto: Anne Morgenstern
Früher war sie in jedem Spunten der Stadt, ob billige Kneipe oder Grand Hotel Dolder, sie machte jede Bar zu ihrer Welt. Und heute sagt Dodo in ihrer klipp-und-klaren Sprache: «Wie kann man jeden Tag Alkohol trinken? Pfui Teufel!» Manchmal zieht es sie auch heute noch in eine Bar. Doch am liebsten sind ihr die Abende mit ihren zwei engsten Freundinnen. Ostern und Silvester, das sind ihre gemeinsamen Fixpunkte im Jahr, und die sind ihr heilig. Es ist der Moment für ihre Abendgarderobe, aber nicht um wegzugehen, auszugehen wie früher. Daheim in der Wohnung trinken sie Prosecco und Vino Rosso, haben es gut. Ihre Sorgen teilt Dodo, seit ihre Mutter nicht mehr lebt, mit der einen, mit ihr ist sie seit vierzig Jahren befreundet. Freundschaft ist Gold wert, sagt Dodo. In der Liebe hingegen war sie «nie ein Hirsch». Seit sechzehn Jahren ist sie mit ihrem Partner zusammen, sie haben je eine eigene Wohnung. Das war’s auch schon, was Dodo von ihm erzählt.
Dodos Leben heute und Dodos Leben früher. Dazwischen liegen Welten. So schwer fällt es allerdings nicht, sie sich früher vorzustellen. Die Energie, die Lebenslust. Aber auch das Aufbrausende, wenn ihr etwas nicht passt. Die Meinung sagen, Grenzen setzen. Und am nächsten Tag ist wieder gut. Sie ist unzimperlich, mit anderen, mit sich selber, und dabei doch irgendwie liebevoll. Momente der Unsicherheit? Kennt sie kaum. Sie, inzwischen über 60 Jahre alt, nimmt das alles nicht zu ernst. Und doch gibt es nichts, das ihr ernster sein könnte als das Leben. «Jetzt bringt mich eh nichts mehr aus der Ruhe. Meine Mutter sagte immer: Das kommt automatisch mit dem Alter. Sie hatte recht.» Dass man ihren Nachnamen erfährt, will Dodo auf keinen Fall. Sie sei von früher zu bekannt in Zürich. Dodo arbeitet neu als Surprise Stadtführerin (siehe Seite 11). Dass ihr das Spass macht, ist ihr anzusehen; früher war sie gerne der Mittelpunkt jeder Feier. Zum Spass allein macht Dodo die Arbeit aber nicht. Als es ihr schlecht ging – «verschissen» sagt sie –, haben ihr zwei Freundinnen geholfen. Ihnen schuldet sie Geld, möglichst bald will sie es zurückzahlen.
Kaffee? Wasser? Zum Trinken braucht Dodo im Surprise-Büro im Zürcher Kreis 4 nichts, nein, danke, dafür nach einer Dreiviertelstunde mal eine Zigarette. Sie erzählt gerne, besonders von den langen Nächten in den Diskotheken, wie sie einst hiessen, vom Glanz und Ruhm. Die schwierigeren Zeiten spart sie nicht aus, auch das gehört zu ihrem Leben. Aber als Opfer von Umständen, von Strukturen, nein, so will sie sich nicht sehen.
Das Geld
Ihre Mutter war knapp 18, als Dodo Anfang der 60er-Jahre als uneheliches Kind geboren wurde. Die Grosseltern hatten schon das uneheliche Kind der älteren Tochter aufgenommen, ein zweites ging nicht auch noch. Dodo kam mit neun Monaten zu «den besten, den liebsten Eltern». Die Mutter ihre Heldin der Kindheit. Dodo war ein freches Kind. Wenn sie merkte, dass etwas bestimmt nicht für sie gedacht war, schaute sie sich das erst recht an. Das Rebellische, woher kommt das? Vielleicht von ihrer leiblichen Mutter, denkt Dodo. Sie stellte sie sich vor wie eine Sophia Loren, Schauspielerin und Weltstar der 60er. Und tatsächlich, als sie sich mit 21 auf die Suche nach ihr machte, traf sie auf eine bildschöne Frau, erzählt Dodo.
Heute sitzt sie am liebsten mit einem guten Freund im Café Felix an der Bahnhofstrasse und beobachtet die Stadt und ihre Menschen. Als Kind war es Tennis, das Reiten und das Schwimmen. Sie war Fotomodell für den Jelmoli-Katalog und ihr Idol – der Ruhm, der Glanz, das Geld! – die italienische Sängerin Raffaella Carrà. Es waren die 70er und sie tanzte in ihren famosen Kostümen auf den Bühnen der Welt. «A far l’amore comincia tu». Und wenn Gianna Nannini im Hallenstadion singt, «Bello e impossibile», ist Dodo da und «flippt schier aus».
Macht Geld glücklich? «Ja, sehr! Und man kann sehr gut schlafen, es beruhigt.» Als Dodo später nicht wusste, wie sie ihr Essen bezahlen soll, erinnerte sie sich daran. Macht Geld einsam? «Gar nicht, mit Geld war ich nie einsam.» Die erste Tasche von Christian Dior mit 15, ein Geschenk von ihrer Mutter, damit sie für die Lehre eine schöne Tasche hat. Schuhe von Loewe. Das Kostüm für die Konfirmation von Grieder. Das Schöne, das Teure, ihre Welt.

Foto: Anne Morgenstern
Die Lehre im Gastgewerbe brach Dodo ab, sie war ausgenutzt worden und hatte Dreizehn-Stunden-Tage. Stattdessen begann sie mit 16 direkt zu arbeiten, hatte zwei Jobs gleichzeitig – über den Mittag im Café Theater, dann bis in die Nacht in der Calvados Bar. Schon damals verdiente Dodo mit dem vielen Trinkgeld gut. Bald fielen ihr die Sexarbeiterinnen in den Lokalen auf. Sie gefielen ihr, diesen Lebensstil wollte sie auch. Und so stieg sie mit 21, Anfang der 80er, als Erotiktänzerin im Stripclub Le Privé ein. Der Champagner floss, doch zur Alkoholikerin wollte sie nicht werden. Dodo verliess die Bar und fing in einem Bordell an der Langstrasse an.
Die Liebe und das Kokain
Dodo hörte oft: Wir werden es deinen Eltern erzählen. Doch unter Druck gesetzt werden, erpressbar sein, das wollte sie nicht. Ihre Mutter war die Erste, der sie erzählte, dass sie Tänzerin war. Cousinen und Cousins, Tante, Onkel, Gotte und Götti, sie alle wussten, dass sie als Sexarbeiterin arbeitete. Abgewandt hat sich nur der Götti. «Ich konnte reden, ich musste nichts verheimlichen. Das war mein Glück.» Ist das eine Art Befreiung? «Nein, das ist doch keine Befreiung, für mich war das normal.» Es dringt der leichte Trotz einer Frau durch, die sich ihr Leben lang nie geschämt hat für ihre Arbeit und der man die Scham doch immer wieder zugeschoben hat.
Ihre «goldene Zeit» beginnt. Bald machte sie sich selbständig und stellte sieben Frauen an. Mit 24 lernte Dodo einen Mann kennen, aus den USA. Heute sagt sie: ihre grosse Liebe. Sie geht mit ihm nach San Francisco. Er wollte sie heiraten. Und sie ging zurück nach Hause, in ihr Bordell. Sie wollte unabhängig sein, Geld und Spass haben. Doch die Trennung schmerzte sie. Sie fing an zu koksen, gibt dafür über die Jahre sicher mehrere 100 000 Franken aus und hat heute kaputte Zähne. Anfang der 90er wechselt Dodo mit 30 auf den Strassenstrich am Sihlquai. 2013 wird er geschlossen. Inzwischen gibt es den Strichplatz in Altstetten, wo die Bedingungen für die Sexarbeiter*innen sicherer und hygienischer sein sollen.
Vom Job selber sei sie nie müde geworden, sagt Dodo. Doch die Selbständigkeit zehrte. Wenn sie mal zuhause blieb oder eins trinken ging, hatte sie ein schlechtes Gewissen. So viel Geld, das ihr nun entging! Sie kam nicht zur Ruhe. Sie arbeitete von Sonntag zu Sonntag. Sie kann sich alles leisten, Kleider, Schuhe, Schmuck, ist mit den Reichen und Schönen unterwegs. Nicht der Job macht süchtig, sondern die Anerkennung, der Luxus.
Sie konnte immer schlechter schlafen und brauchte Schlafmittel. Wenn sie aufwachte, hatte sie Beine wie Blei. Und am Abend, wenn sie hätte schlafen können, musste sie sich für die Arbeit bereit machen. Ein heisses Bad, um die Beine zu aktivieren. «Und dann ist man halt wieder gegangen.» Auch mit 40 Grad Fieber. In die AHV hat sie ab und zu einbezahlt («aber zu wenig»), eine Pensionskasse hat sie nicht, und gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit war sie nicht versichert.
Sexarbeiter*innen erleben besonders häufig Gewalt, wie eine neue Studie von ProCoRe zeigt, dem nationalen Netzwerk für die Rechte der Sexarbeiter*innen. Weil Sexarbeit gesellschaftlich stigmatisiert wird, sinke die Hemmschwelle, Gewalt auszuüben. Ihre Kunden waren anständig, sagt Dodo. Die Gewalt kam von zwei Männern, die sie aus dem Milieu kannte und mit denen sie eine Beziehung führte. Sie dealten und nahmen Drogen. «Hauptsache, sie brachten mir Stoff.» Umgekehrt liessen sie sich, weil Dodo Geld hatte, von ihr einladen. Der eine bedrohte sie mit der Pistole, machte ihre Möbel und Kleider kaputt. Der andere schlug sie zwei, nein drei Mal grün und blau. «Dann sagte ich: Schluss, fertig!» Wer hat dir geholfen, Dodo? «Hör doch auf, ich kuriere mich selber. Ich brauche keine Hilfe.» Da ist es wieder, dieses Unzerstörbare, Unverletzbare.
Dieses «Jetzt erst recht». Wie viel Kraft muss das kosten? Anzeige zu erstatten, war keine Option, sagt Dodo. «Im Milieu machte man sowas nicht.»
Der Tod der Mutter und der Alkohol
Mit Ende 30 heiratet Dodo, es sind die Nullerjahre. Und sie merkt, nach 15 Jahren: Mit dem Kokain kann es so nicht weitergehen. Nur der Alkohol blieb. Sie trank, um sich zu belohnen. Und sie trank, wenn sie Frust hatte. Etwa wenn es finanziell nicht mehr so gut lief. Zwei Jahre lang zahlte ihre Mutter die Miete. Als die Mutter 2005 stirbt, Dodo ist 43, erträgt sie das Leben nüchtern nicht mehr. Ein Jahr lang konnte sie nicht arbeiten. Heute trinkt sie selten mal eins.
Endgültig kam das Ende der Welt, wie Dodo sie liebte, mit der Personenfreizügigkeit mit der EU. Die Zahl der Sexarbeiter*innen stieg, viele kamen aus Osteuropa, aber auch aus Spanien und Südamerika – gemäss NGOs sind mehr als 75 Prozent der Sexarbeiter*innen Migrant*innen. Die Preise gerieten unter Druck, und dann nochmals verstärkt, seit mit Corona die Nachfrage zurückgegangen ist. Die Preise der 90er und auch noch der Nullerjahre – Dodo verdiente für die Stunde 500, 600 Franken, für eine halbe Stunde 300 – sind heute unvorstellbar. Dodo lebte vom Erbe, bis sie die Goldkette ihrer Grossmutter verkaufen musste, um die Miete zu zahlen. Irgendwann konnte die Beratungsstelle Flora Dora sie überzeugen, doch zum Sozialamt zu gehen. Neulich lernte Dodo bei Surprise die anderen Stadtführer*innen und ihre Geschichten kennen. Sie sagt: «Im Vergleich ist es mir ja immer noch blendend gegangen, trotz allem.»